Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 323
Text
einfacherem Styl; einige Möbel, ein kleines Bücherpult — zum »Bücher-
menschen« hat Jonas Lie es nie gebracht; auf dem Fussboden Teppiche;
die Wände bedeckt mit Photographien aus der Heimat und aus Berchtes-
gaden; ein oder die andere Curiosität, wie ein Schwertfischzahn und
unter der Zimmerdecke eine von Alexander Kielland gespendete Möve;
in der Ecke, neben dem Ofen, ein Sopha mit Teppich und Fellen;
dahinter die dreifarbige norwegische Flagge; davor der kleine Schreib-
tisch mit fast keiner Ausstattung. »Ich brauche nicht viel,« sagt
Lie; »kann wo immer schreiben, sitzend, stehend — oder gehend,
wenn es noth thut.«
Er wohnt immer in einer luftigen, ruhigen Gegend. Anfangs
sehnte er sich sehr nach Hause. Aber allmälig begann er sich in Paris
wohl zu fühlen. Es war ein Segen, in der grossen Stadt zu sein, wo
man sich einrichten kann, wie man will, und so unbemerkt leben, als
man nur wünscht. Und dann gibt es da allzeit etwas zu sehen. Sein
historischer Sinn liebt Erinnerungsmäler und alte Stätten; aber das
moderne Leben spricht ihn nicht minder an, und in Paris hat er
beides in Ueberfluss — nebst Sammlungen und Ausstellungen zum
Entzücken seines Kunstsinnes. Doch am meisten liebt er den Pariser
Frühling. Wenn die Luft wie ein Rausch von Laub- und Veilchen-
duft ist und die Rosen fuhrenweise bei den Thoren einziehen, während
die Mauerschwalben über seinem Balkon Nester bauen und jeden Morgen
geflattert kommen und ihn »begrüssen«, ohne »im Mindesten bange
zu sein«, da wird Jonas Lie religiös. »Ist es nicht merkwürdig, dass
mir gegönnt sein soll, so schön zu wohnen?«
Es war vielerlei Besuch, den er empfing, und vielerlei Hilfe und
Beistand, die er leisten musste. Ich kann nur mit Grauen daran
denken, wie ich selbst mich betrug, als ich zum erstenmal nach Paris
kam
Spät an einem schwarzen Abend kam ich bei der Nordbahn-
station hereingerollt, allein und verzagt, hilflos im Französischen; der
ungeheuere Bahnhof mit seinem Getümmel und Getümmel schreckte
mich; ich liess meinen Koffer — mit Wäsche, Reisegeld, Allem — in
Stich und floh.
Tags darauf zu Lie. Mitten im Vormittag, mitten in seiner
Arbeitszeit. Klagte meine Noth; Hilfe für einen Landsmann! —
Niemand von den »Kindern« ist zu Hause; soll ich Beistand kriegen,
muss Lie selber gehen Und er thut es. Wir fort. Wagen von
L’Etoile; prächtige Fahrt durch halb Paris; Lie munter und liebens-
würdig, ich in dem wachsenden Gefühl der Unmöglichkeit dieser
Situation Esel! den Dichter Jonas Lie zu Gepäcksträgerdiensten zu
benützen! Endlich sind wir da. Mit einer Art feierlicher Spannung,
die ich nicht begriff, nimmt mich Lie ins Schlepptau; weiter geht’s,
von Comptoir zu Comptoir, von Magazin zu Magazin, durch Corridore
da und Corridore dort. Ich bewundere sein Französisch; nur ein ver-
einzeltesmal bleibt er stecken und sagt auf Norwegisch: »Ja, wie zum
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 323, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-09_n0323.html)