Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 324
Text
Teufel heisst das nur?« Aber die Functionäre sind die Höflichkeit selbst,
und ehe wir uns dessen versehen, haben wir den Koffer.
Als wir später wieder zu den Lie’schen hinaufkommen, sind die
»Kinder« schon heimgekehrt, und es entsteht Jubel und Hallo: Der
Vater war praktisch gewesen! Der Vater hatte den Koffer zustande
gebracht! Der Vater hatte sich im Französischen producirt! Mir schien
dies eine etwas freie Manier, einen grossen Dichter zu behandeln, und
ich fühlte mich verpflichtet, ihn zu vertheidigen; er war wirklich
praktisch gewesen, und was das Französische anging, so hatte er es
so gut gesprochen, dass sogar ich ihn verstand Aber der Jubel
stieg bloss. Es kam die eine Geschichte um die andere von des Vaters
Hilflosigkeit in kleinen praktischen Dingen; ich merkte, darin war Lie
nicht zu retten, und ich gab es auf. Doch er ging im Zimmer auf und
ab mit behaglichem Lächeln und ganz tüchtig stolz; da konnten sie
sehen, der Vater war nicht so dumm, wie sie meinten.
Mittlerweile war ich auf diese Art in die Familie eingeführt, und
bald hatte ich nur das allgemeine Urtheil zu unterschreiben: hier lebte
in besonderem Grade das, was wir Gemüthlichkeit nennen.
Wenn wir erklären sollten, warum wir uns bei den Lie’schen so
wohl befanden, sagten wir gern, dass die Menschen dort eben so natür-
lich seien. Da gab es keine Art von Pose. Dass es zufälligerweise
bedeutende Menschen seien, merkte man nur daran, dass es unter-
haltend war, mit ihnen zu reden und dass man nachher nicht Leere
fühlte, sondern Belebung, Bereicherung. Jonas Lie selber war lauter
Leben und Interesse. Nebst seltsamen Einfällen und kühnen Be-
hauptungen gab es da stille Begeisterung und warmen Ernst; kam
Unsinn, so fand er sich ganz geduldig drein, dass wir lachten; dafür
riss er uns um so aufrichtiger mit, wenn es etwas Schönes war. Seine
Frau ihrerseits war klar und klug, sicher, mit der Ueberlegenheit, die
ohne Anstrengung herrscht, interessant und gar nicht bange, ihre
Meinung frei herauszusagen; ich erinnere mich noch, wie es biss, als
sie mich in einer Abendstunde »gebildet« schalt. Ohne dass man es
merkte, beherrschte sie die Gesellschaft und gab ihr die Empfindung
von Ruhe und Styl, die macht, dass man sich der Stimmung hingibt
und natürlich wird. Da gibt es keine innere Unsicherheit: man kann
spassen oder disputiren, aber der Ton wird nicht durchbrochen; auch
keine innere Forcirtheit: die Gefahr der Pausen ist gar nicht vor-
handen. Das ist ja das Geheimniss der guten Gesellschaft, gerade das,
und redeten wir von Natürlichkeit, meinten wir eigentlich Bildung,
die volle, freie Bildung, die alle Schalen und Häute der Halbcultur
schon von sich weggelebt hat und wieder Natur geworden, verfeinerte
Natur.
Die Beiden, er und sie, hielten sich gern in der Nähe von
einander; Jonas fühlte sich nicht wohl, wenn er Thomasine nicht
wenigstens sehen konnte; ich denke nach, ob er auch ganz frei von
Eifersucht war. An gewöhnlichen Abenden sassen sie gern neben-
einander.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 324, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-09_n0324.html)