Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 325
Text
Sie ist eher klein, zart gebaut; aber die ranke Sicherheit in
Haltung und Wesen und die leuchtende Intelligenz des energisch ge-
zeichneten Antlitzes macht, dass sie grösser scheint, als sie ist. Mitten
in aller verständigen Hausmütterlichkeit und gesellschaftlichen Liebens-
würdigkeit geht sie herum, mit einem Gesicht und Wesen, das mich
an alte Burgfrauen denken liess. In ihrer Art hat sie etwas Scharfes,
doch zugleich Kluges; ihre Gefühle sind heftig und warm und ihre
Sympathien und Antipathien lebhaft.
Er sitzt mehr ruhig und behaglich unter seinem schiefen »berette
d’écolier«; er lacht gern, doch das Gesicht und namentlich der breite,
energische Mund kann plötzlich einen fast düsteren Ausdruck von
Versonnenheit bekommen. Der Typus ist drontheimisch, gedämpft durch
einen nordländischen Zug von Weichheit und Schwermuth; über das
Ganze legen die warm braunen, hinter den Brillen dunkel grübelnden
oder schlau blickenden Augen den Schimmer von Verträumtheit. Seine
Aussprache hat einen leicht nordländischen Accent, zum Zeugniss, dass
es das Märchenland droben ist, welches seiner Seele ihre Grundfarbe
gegeben. In seinen Bewegungen ist etwas Hurtiges und Elastisches,
nervös Energisches; wenn er geht und mit den muskulösen Armen und
mageren, hochadrigen Händen herumficht, so sieht er aus, als hätte er
so recht Lust, irgendwie anzubinden.
Seine Gefühle sind sehr lebhaft. So wie er zornig werden kann
bis zum Berserkergang, so wird er lustig bis zur Kindlichkeit. Ich sah
ihn einmal, überrascht von einem sehr willkommenen Besuch, die
Gäste — Damen! — mit Schlägen und allerhand begeisterter Gewalt-
that überfallen, so dass ein Lärm war wie in einer Spielstube. Oft ist
er ruhig, wenn man es nicht erwarten sollte; aber das mag davon
kommen, dass er sich beherrscht, aber auch daher, weil die Situation
ihm erst nachträglich klar wird. Sein Wesen ist warm, lebendig,
impulsiv
Es wird nicht leicht geschehen, dass sich jemand in diesem Kreis
beiseite gesetzt fühlt. Lie hat nicht bloss das tiefe Interesse für Indivi-
dualitäten, welches den Umgang mit ihm so weckend macht; unter
all dem glüht seine Cultur- und Vaterlandsliebe; jede Person ist ihm
eine Kraft, die nach ihrer Eigenthümlichkeit in der grossen Wirklich-
keitsdichtung, die ihm allzeit vorschwebt: der Cultur der Zukunft, insbe-
sondere der Cultur Norwegens, verwendet werden soll.
Obwohl er im Ausland und in der Stille lebt, hat Lie darum
dennoch durch seine Persönlichkeit auf unser heimisches Leben einen
grösseren Einfluss geübt, als man glauben möchte. Fast das ganze
jüngere Geschlecht von Künstlern, das nun in seiner besten Kraft
steht, hat Lie passirt und von ihm Anregungen erfahren, über die sie
sich vielleicht nicht Alle stets klar geworden, die aber darum doch
vorhanden sind; das merkt man an der Wärme, mit der sie von ihm
reden. Seine Einwirkung ging dahin, der einzelnen Individualität den
Muth zu geben, sie selbst zu sein. Dadurch mussten die Individuali-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 325, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-09_n0325.html)