Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 326

Wie Jonas Lie lebt und dichtet (Garborg, Arne)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 326

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326 GARBORG.

täten auch national werden; jede Pflanze hat das Gepräge der
Erde, die sie getragen, und der Sonne und Luft, in der sie wuchs.
»Ein Mensch ohne Vaterland ist ohne festen Grund im Leben,« sagt
Lie. Vielleicht gab er auch manch jungem Mann den Muth, den es
in kleineren Ländern braucht, nicht blasirt zu sein. Sein lebhaftes
Interesse für alle vaterländischen und menschlichen Angelegenheiten
wirkt ansteckend, und Blasirtheit verträgt er nicht. »Ein blasirter
Künstler ist ein todter Fisch,« sagt sein Abraham Johnston in »Böse
Mächte«.

Neben seinen umfassenden politischen und humanen Interessen,
die Laura Marholm veranlasst haben, ihn als »den am universellsten
mitlebenden und mitfühlenden unter den Verfassern des Nordens« zu
bezeichnen, pflegt er in der Stille sein tiefes, halb mystisches Natur-
interesse
, das in allerlei Hypothesen und Theorien von mehr oder
minder merkwürdiger Art in betreff der verschiedensten Gegenstände
Ausdruck findet, Theorien, von denen er nicht mehr als nothwendig
spricht. Er hat wohl seine Erfahrungen, denke ich, noch aus seiner
ersten Jugendzeit, als er die Briefe an seine Braut mit langen und
eifrigen Betrachtungen über das Perpetuum mobile anfüllte, dem er
sein Geheimniss abgelistet zu haben meinte. Nur wenn Entdeckungen
oder Vermuthungen von wissenschaftlicher Seite seine Theoreme be-
kräftigen oder stärken, wagt er sich damit ans Tageslicht; es ge-
schieht das übrigens nicht so selten. Und mir scheint, er ist ganz
ebenso froh über eine Bestätigung seiner Hypothese über die Eis-
periode oder die Steinzeit, wie über irgend eine Anerkennung, die er
als Künstler bekommt. In einem Brief jubelt er — doch erst nach
einem gewaltigen Ausfall gegen den spiritistischen Aberglauben —
über die Seeschlange vom Suldalsvand laut auf: »Zu meinem
höchsten Vergnügen tauchen nach den letzten Zeitungen nun
Seeschlangen und hundert Ellen lange Ungeheuer in den Wassern
auf. Sie kommen, wie von mir in der ersten Trollgeschichte
(‚Der Huldrefisch‘) beschrieben, ganz aus der Tiefe herauf.« —
»So siehst du auch,« fährt er fort, »aus Mr. Peary’s Grönlands-
fahrt, dass Grönland gegen den Nordpol zu Vegetation, Insecten und
Thierleben bekommt; natürlich; die Pole sind flachgedrückt, und darum
ist die Erdwärme da grösser, und darum das Nord- und Südende der
Erdachse vielleicht tropisch oder saftiggrün, mit aller Art Blumen,
Bäumen und Thieren«. Traurig genug: die Erde ist nun so »entdeckt’
und bekannt, dass wir ins Polareis hinauf müssen, wenn wir uns in ein
Märchenland träumen wollen.

Entdeckungen und Erfindungen versetzen ihn in wilde Be-
geisterung; jedesmal baut er einen Thurm von Babel, der zum Himmel
reicht, nur aus den erhofften Folgen und Umwälzungen, die das neue
Ding, z. B. das Telephon mit sich führen wird. Es sind das die Ideen
eines Dichters, der das Ungewöhnliche und Seltsame liebt und weite
Schlüsse aus jedem der sonderbaren Dinge zieht, die ihn ergriffen
haben. Alle Naturbegebenheiten beschäftigen ihn stark und anhaltend

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 326, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-09_n0326.html)