Text
Von ADELE SANDROCK (Wien).
Von mancher Seite habe ich gegen meinen Entschluss, das
Burgtheater zu verlassen, den Einwand gehört, eine fahrende
Schauspielerin könne leicht Einbussen in ihren künstlerischen
Leistungen erleiden, die nur durch ein fixes, einheitliches En-
semble förderliche Unterstützung finden.
Ich muss sagen, dass gerade dieser Einwand mich bestärkt
hat, aus dem Burgtheater zu fliehen. In der Mehrzahl der Fälle
habe ich in den Theatern, wo ich auf meinen Reisen spielte, ein
Schauspielermaterial gefunden, das ich nach ernsthaftem Probieren
rasch zu einem verständigen Ensemble umzubilden vermochte.
So lange ich bei der Bühne bin, war es mein Bestreben, meinen
Collegen derart entgegenzukommen, dass sie sich im Sinne ihrer
Rollen zur Geltung bringen können; hingegen war ich stets in
meinem eigenen Spiel gestört, wenn mich meine Partner durch
feindliche Blicke schon im ersten Acte tödten wollten, obwohl
ich erst am Ende des Stückes zu sterben hatte.
Ich bin und werde stets eine Ensemble-Schauspielerin bleiben.
Gerade deshalb musste ich dem jetzigen Burgtheater entschlüpfen.
Bei jedem Auftreten, selbst bei Wiederholungen des nämlichen
Stückes hatte ich die Empfindung, als ob nie eine Probe vorher-
gegangen wäre. Ein freundnachbarliches Zusammenleben auf der
Scene existiert da nicht mehr. Fast jeder spielt, als ob er allein
auf der Bretterwelt wäre. Nur der Dichter könnte hier noch
grossen Erfolg erzielen, der ein Stück schriebe, in welchem jede
einzelne Person die andere in den Grund zu bohren trachtet und
niemand einen Funken Menschengefühl in der Brust hegt. Ich
begegnete stets fragenden Mienen: »Wer bist Du? Wie heisst Du?
Wir sind in jedem Stück ein und dieselben, nur Du bist in jeder
Rolle eine andere; darum kennen wir Dich nicht.«
Ich gehe auf eine Reise, weil ich nicht in den Burgtheater-
schlaf verfallen will; pecuniäre Interessen stellte ich nie meinen
künstlerischen voran. Ich hoffe, der deutschen Schauspielkunst
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 932, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-24_n0932.html)