Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 865
Die menschliche Wahrheit über Bismarck (Bleibtreu, Karl)
Text
Wiener Rundschau.
15. OCTOBER 1898.
DIE MENSCHLICHE WAHRHEIT ÜBER BISMARCK.
Von KARL BLEIBTREU (Wilmersdorf bei Berlin).
(Schluss.)
Den Wert einer Meinung verbürgt ihre innere Wahrhaftigkeit.
Wer mit Unwahrheiten hantiert, um seine Überzeugung durchzudrücken,
verräth hiermit selbst, auf wie schwachen Füssen sie schwankt. Ein
Patriotismus, der absichtlich die Wahrheit verdunkelt, mag Chauvinismus
sein, dem der Zweck alle Mittel heiligt, eine Tugend aber ist er sicher
nicht. Hier springt uns nun ein ungemein bezeichnender Fall ins
Auge, nämlich die neuesten Enthüllungen von Busch über die Emser
Depesche, die allerdings in der Hauptsache nichts Neues bringen, wohl
aber die Begleitumstände verschärfen. C’est le ton qui fait la musique.
Dass die ursprüngliche lange Originaldepesche Abekens eine »Chamade«
und Bismarcks kurze Redigierung eine »Fanfare« war, wussten wir
schon früher. Nicht aber wagte man so deutlich festzustellen, dass
der König zu jedem Nachgeben, zu »einem zweiten Olmütz« bereit
schien und dass der Eindruck der Abeken’sehen Depesche ein geradezu
niederschmetternder war, den kriegslustigen Moltke nach Anhörung
dieses Schriftstücks gleichsam als hoffnungslosen »alten Mann« zusammen-
schrumpfen liess. Die That Bismarcks ist also einer gewaltigen Selbst-
verantwortlichkeit entsprungen; nach solchen Enthüllungen wird doppelt
unbegreiflich, wie ernsthafte Männer behaupten konnten, zwischen der
langen königlichen und der kurzen Bismarck’schen Depesche habe kein
wesentlicher Unterschied bestanden. Dass Bismarck selber es anders
auffasste und dass er sich dieser »Fälschung« als einer nationalen
Grossthat berühmte, zeigt ja eben sein eigenes Ausplaudern der Wahr-
heit. Denn die ganze Mittheilung dieser ihm so zur Last gelegten
»Fälschung« ist auf ihn selber zurückzuführen, und hat er sich über
die sonstige Tragweite der Enthüllung, nämlich Ihn allein als den
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 865, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-23_n0865.html)