Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 866
Die menschliche Wahrheit über Bismarck (Bleibtreu, Karl)
Text
grossen, festen, stolzen Vertheidiger der Nationalehre hinzustellen und
einen bestimmten Gegensatz zu seinem unentschlossenen »Herrn« zu
markieren, wohl schwerlich getäuscht. Nur scheint er nicht geahnt zu
haben, welche Waffe er seinen Gegnern damit in die Hand gab, und
erstaunte vielleicht über die Wirkung seiner Unvorsichtigkeit. Schreiber
dieser Zeilen darf sich deshalb zu dieser historischen Streitfrage melden,
weil das eigene »Bismarck-Jahrbuch« von Horst Kohl, III. Band,
5. Lieferung 1896, bei Bearbeitung des Themas »Die Emser Depesche«
ausdrücklich auf uns Bezug nimmt, unsere Darstellung in der »Münchner
Allgemeinen Zeitung« hauptsächlich zugrunde legt und der Verfasser
betont, dass er Bleibtreus betreffenden Artikel »nachdrücklich hervor-
hebe«, weil er sich mit unserer »Auffassung der Situation und
Depesche mehr in Übereinstimmung« wisse, als mit Sybel, Oncken,
Delbrück u. s. w. Nun stand aber die »Münchner Allgemeine Zeitung«
stets Friedrichsruh nahe, gegen eine frühere Darstellung an gleichem
Orte aus anderer Feder hatte Bismarck sogar schon polemisieren lassen:
wenn also unsere Darstellung, die durchaus der landläufigen Benedetti-
Legende ins Gesicht schlug, schweigend passierte, so muss wohl Bismarck
selbst sie als zutreffend bestätigt haben. Sehr richtig sagt das Bismarck-
Jahrbuch Seite 464: »Bismarck hätte eine solche Massregel (die Noti-
ficierung der beiliegenden Depesche) Deutschland gegenüber wohl sicher
auch als Beleidigung aufgefasst. Die Anerkennung dessen aber lassen
die deutschen Darstellungen dieser Vorgänge durchaus vermissen. Mit
anerkennenswerter Gerechtigkeit urtheilt nur Karl Bleibtreu; rückhaltlos
spricht er es aus, dass das Telegramm »unzweifelhaft« eine absicht-
liche »öffentliche Beleidigung« Frankreichs enthalte.«
Diese Beleidigung, um es nochmals festzustellen, war Bismarcks
eigenstes Werk und der König, consterniert genug, als er diese Ver-
öffentlichung las, sagte bewegt: »Das ist ja der Krieg!« Auf den
wahren — obschon Bismarck-Buschs Wendung »zweites Olmütz« auf
absichtlicher Übertreibung und Herabsetzung seines »Herrn« beruht —
tiefgreifenden Unterschied des Wortlauts beider Depeschen ist aber
selten mit wünschenswerter Deutlichkeit hingewiesen worden. Allerdings
schrieb Abeken, der König habe »beschlossen, Graf Benedetti nicht
mehr zu empfangen, sondern ihm nur durch einen Adjutanten sagen
zu lassen«, Bismarck aber drückt diesen Entschluss einfach als That-
sache aus: »Se. Majestät hat es darauf abgelehnt, den französischen
Botschafter nochmals zu empfangen, und ihm durch den Adjutanten
vom Dienst sagen lassen « Man bemerke die eigenthümliche
Änderung in scheinbar gleichgiltigen und doch so meisterhaft berechneten
Nebenausdrücken. »Nochmals«, »Adjutant vom Dienst« klingt absichtlich
geringschätzig, und während dort nur vom »Grafen Benedetti« geredet
wird, spricht hier absichtlich Bismarcks Depesche vom »französischen
Botschafter«, der so geringschätzig abgethan wird. Also: »sagen lassen,
dass seine Majestät dem Botschafter nichts weiter mitzutheilen habe«.
Was aber steht in Abekens Fassung? »Dass Se. Majestät jetzt vom
Fürsten von Hohenzollern die Bestätigung der Nachricht
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 866, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-23_n0866.html)