Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 864

Herr Nordau Garborg, »Paulus« Bölsche, »Das Liebesleben in der Natur«

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 864

Text

864 NOTIZEN.

und fällt Herrn Nordau nicht hinein.
Er hat sich nun einmal die Rolle
des tobsüchtigen homme médiocre
ausgewählt und sie ist ihm, da er
damit zum Repräsentanten aller
anderen eingerosteten Gehirne
wurde, zu einer einträglichen
Geldquelle geworden, von der er
wahrscheinlich nicht lassen will.
Aber für diesen »Trottel« ist nicht
nur Herr Nordau verantwortlich.
Wer redigiert denn das Feuilleton
dieser Zeitung? Diese betreffenden
Collegen müssen sich gegen den
erwähnten Trottel öffentlich er-
klären, wenn sie nicht mitsoli-
darisch in die Literaturgeschichte
kommen wollen. st. gr.

Paulus. Von Arne Gar-
borg
, Leipzig, Reclams Universal-
bibliothek.

Dieses Drama des grossen Roman-
dichters Garborg soll eine Jugend-
arbeit sein. Darum allein schon kann
man seine Mängel verzeihen. Es
hat einen undramatischen Stoff:
die innere Bekehrung eines Schein-
christen zum wahren Evangeliums-
christen. Die menschlichen Be-
ziehungen, die zur Drapierung
dieses Themas verwendet werden,
sind matt und schlaff, übrigens
von Ibsen allzu beeinflusst. Das
moderne Drama scheint wie die
Oper auf einer schiefen Ebene von
den Gipfeln Ibsen und Wagner in
die flachen Ebenen zu rollen. Was
irgendwie durch seinen Inhalt in
Betracht kommt, ahmt die unnach-
ahmliche Form Ibsens nach, was
irgendwie durch seine Form auf-
fällt, ist inhaltlich leer und gleich-
giltig. (Ebenso bei Wagner.) Die
literarischen Bühnen sollten zur
Einsicht kommen — wie es die

Opernhäuser nach Wagner über-
all erkannt haben — dass in ge-
wissen Zeitabschnitten es sich
wirklich nicht um die Förderung
»neuer Talente« handelt, sondern
zuerst um die vollkommene und fast
ununterbrochene Aufführung der
Werke jenes Meisters, durch dessen
ungeheure Wirksamkeit die nach-
folgende Production auf Jahrzehnte
in die dürren Steppen der dra-
matischen Nachahmung und Inhalt-
losigkeit von vornherein verbannt
wurde. Solange Ibsen und Wagner
von der Welt nicht bis auf den
letzten Blutstropfen aufgesogen
sind, wird es keine neuen dra-
matischen Genies geben. Und damit
hat es noch lange Zeit.

m. m.

Den ersten Theil einer Ent-
wicklungs
-Geschichte der
Liebe hat Wilhelm Bölsche

dieser Tage (bei Eugen Diederichs,
Florenz und Leipzig) erscheinen
lassen. Er führt den Titel: »Das
Liebesleben in der Natur«. Ein
zweiter Theil, den Menschen be-
treffend, soll bald folgen. Ein Ge-
lehrter hat dieses Buch geschrieben,
aber einer, der in seiner Wissen-
schaft ein Künstler ist. Solche
Bücher, die eine Synthese von
Wissenschaft und Kunst darstellen,
haben wir Deutsche nicht viele.
Immenses Thatsachen-Material, phi-
losophisch geordnet und dichterisch
vorgetragen in einer klaren, leben-
digen schwärmerischen Sprache.
Vielleicht gerade in jenen Partien
von höchstem künstlerischen Wert,
wo von Kunst am wenigsten die
Rede ist. Wir kommen auf das
bedeutende Werk noch ausführ-
licher zurück.



Herausgeber: Gustav Schoenaich, Felix Rappaport.

Verantwortlicher Redacteur: Gustav Schoenaich.

K. k. Hoftheater-Druckerei, Wien, I., Wollzeile 17. (Verantwortlich A. Rimrich.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 864, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0864.html)