Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 825
Die menschliche Wahrheit über Bismarck (Bleibtreu, Karl)
Text
Wiener Rundschau.
1. OCTOBER 1898.
DIE MENSCHLICHE WAHRHEIT ÜBER BISMARCK.
Von KARL BLEIBTREU (Wilmersdorf bei Berlin).
Sich zu voller Objectivität aufzuschwingen fällt selbst Auserlesenen
schwer. Menschliches, allzu Menschliches wuchtet uns allemal zu Boden,
fesselt uns an den Ichwahn, der die Dinge nur vom eigenen Gefühls-
oder Interessenstandpunkt wertet, Gut und Böse mit subjectiver Elle
misst. Dächten alle oder auch nur die Mehrzahl objectiv, so gäbe es
keine sociale Frage zu lösen, denn das Reich der Gerechtigkeit und
Freiheit, des Wohlwollens und der Liebe käme von selber. Das Sprich-
wort hat den gesunden Altruismus, nämlich die Rücksicht auf den
Nebenmenschen aus Rücksicht auf uns selbst, triftig ausgedrückt: »Was
du nicht willst, dass dir man thu’, das füg’ auch keinem andern zu!«
Wenn man nun als Unterdrücker oder Ausbeuter unendlich vielen
unendlich vieles zufügt, wovon man selber nicht den tausendsten Theil
ertragen möchte, so gehört doch naive Unbilligkeit dazu, von den Ge-
schädigten zu erwarten, sie sollten dafür noch dankbar die Ruthe küssen.
Wir müssen es daher als den Gipfel subjectiver Selbstsucht, völliger
Unfähigkeit zu objectivem Denken bezeichnen, wenn man der Social-
demokratie vorwarf, sie habe Bismarcks Apotheose nicht mitmachen
und ihm noch gar Lorbeerkränze ums Grab nicht winden wollen. Man
müsste die Socialdemokraten im Gegenteil verachten, wenn sie ihren
grimmen vollberechtigten Hass gegen einen Despoten verhehlen wollten,
der zahllosen ihrer Genossen schweres Leid bereitete, bis zuletzt ihre
Sache mit unversöhnlicher Wuth befehdete und sogar den Vorschlag
nicht scheute, man solle die »Umstürzler« einfach ausserhalb des Gesetzes
erklären. Bismarck blieb bis zum letzten Athemzug eine anachronistische
Erscheinung, ein verstockter Feudalbaron, jeglichem socialen Empfinden
fremd, das seiner durch und durch egoistischen Herrennatur natürlich
in jeder Fiber widerstrebte. Dies darf man ihm nicht verargen, denn
niemand kann über seinen Schatten springen. Ein Mann, der mit pein-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 825, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0825.html)