Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 826
Die menschliche Wahrheit über Bismarck (Bleibtreu, Karl)
Text
licher Genauigkeit in seinen Briefen auseinanderhielt, ob er Wohlgeboren
oder Hochwohlgeboren titulieren solle, musste sich selber sagen: hat der
Socialismus Recht, dann warst du dein Leben lang auf dem Holzweg.
Sind Gerechtigkeit, Mitleid, Menschenliebe jene heiligsten Güter, welche
bekanntlich Europas Völker wahren sollen, dann war dein ganzes Lebens-
werk, nur auf äusserliche Machtgebilde gerichtet, leerer Schall und
Rauch. Das will Sich aber niemand gerne sagen lassen, nicht einmal
vom eigenen Gewissen, und so wirkt denn sein subjectiver Hass geradeso
ehrlich und natürlich, wie umgekehrt der Hass wider ihn.
Dass freilich ein solcher Übermensch, von jeglichem Christentum
durch Abgründe getrennt, sich von seiner persönlichen Fortdauer in
einem christlichen Jenseits etwas versprach und an die Zauberkräfte
des hl. Abendmahls glaubte, wie sein Gutspastor salbungsvoll ver-
sichert — das gehört zu den unlöslichen Räthseln des Menschen-
problems. Denn er wie alle seiner Art und Kaste müssten sich doch
bei einigem Nachdenken darüber klar werden, dass ihre eigene Christen-
religion keine doppelte Buchführung kennt und das fleissigste Kirchen-
besuchen ihnen höchstens den zweifelhaften Vorzug verschaffen könnte,
neben den Pharisäern an die Orte hinabzufahren, wo da ist Heulen
und Zähneklappern. Doch man braucht nicht an die beispiellose
Unverschämtheit sich zu erinnern, mit der dieselben von Jesus ge-
brandmarkten Pharisäer sich als seine Leibpriester in einer angeblich
christlichen Kirche einsetzten, bis sie zuletzt selbst daran glaubten, das
von ihnen vorgetragene Kauderwelsch stimme mit dem freiheitlich
herrlichen Geiste der Evangelien überein. Eine völlig im Irdisch-Nichtigen
aufgehende Natur wie Bismarck ist im Grunde zu oberflächlich, um
sich über die letzten Dinge ein Urtheil zu bilden. Bis zuletzt beschäftigten
den Greis rein materielle Politikfragen, alles höhere Sinnen und Denken
lag seinem Bereich so fern, dass er gerade hierdurch so recht zum
Abgott der Philistermasse sich eignet. Ein versedrechselnder Alkoholiker
sah ihn daher sofort mit gewaltigem Kladderadatsch ’gen Walhalla
emporsteigen, hoffentlich reicht ihm Tor das grosse Bierhorn entgegen,
das nie alle wird — wie auch die Dummen nie alle werden und die
falschen Biedermänner. Vielleicht hätte die teutsche Nation ihren
erhabenen Nationalhelden nie so innig ins Herz geschlossen, wenn er
nicht im »Kneipen« ihrer classischen Bärenhäuterei mit glorreichem
Beispiel vorangegangen und ein Meister des Alkohols wie der Staats-
kunst gewesen wäre. In reingeistigen Gebieten war er ebensowenig
bewandert wie das sogenannte »Volk der Dichter und Denker«, dagegen
in geistigen Getränken nahm er es mit jedem Corpsstudenten auf, mit
den Edelsten der Nation. Dass wir hiermit die wirkliche äussere
Grösse nicht antasten wollen, wird später ersichtlich werden. Wohl
aber bemerken wir nachdrücklich, dass solche »Walhallafahrt« des
überlebensgrossen Recken — auch diese physische Körperlänge im-
ponierte den guten Deutschen riesig und qualifizierte ihn zum National-
heiligen — wohl altgermanischen Barbaren geziemt, denen Kraft als
einzige Tugend galt, nicht einem modernen christlichen Volke. Die
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 826, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0826.html)