Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 827

Die menschliche Wahrheit über Bismarck (Bleibtreu, Karl)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 827

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DIE MENSCHLICHE WAHRHEIT ÜBER BISMARCK. 827

allmächtige Heuchelei zwingt immer wieder zu betonen, dass jenes
aus dem Buddhismus hervorgegangene Urchristenthum sich ausdrücklich
»ein Reich nicht von dieser Welt« nannte, dass also eine Staats-
kirche, die irdischen Machthabern huldigt, ein Unding in sich selber,
direct dem antiken Heidenthum verwandt, das zuletzt den Cäsaren-
bildern als »Göttern« opferte. Selbst das verknöcherte Judenthum,
gegen das Jesus auftrat, war doch wenigstens eine Theokratie und
wollte von irdischen Cäsaren nichts wissen. Deshalb lebte es in der
katholischen Priesterschaft im gleichen Geiste fort und wir verehren
daher in der römischen Kirche, all ihrer Sünden gegen freiheitliche
Entwicklung unbeschadet, das letzte Bollwerk der Demokratie und
Geistesherrschaft gegen das rohe Feudalsystem im Mittelalter, auch
heute noch unendlich mehr vom wahren Christenthum erfüllt, als ihr
Zerrbild, der angeblich freiheitlichere, in Wahrheit völlig unter die
Staatsgewalt geduckte Protestantismus. Es ist daher kein Zufall, dass
die eigentlichen Staatsmenschen im Katholicismus ihren natürlichen
Feind sehen und die römische Kirche heut eine theils verstohlene,
theils offenkundige Hinneigung zum Socialismus verräth. Sie hat sich
eben noch Logik und Würde bewahrt, statt wie das protestantische
Staatsdienerthum völlig vor den Herren dieser Welt zu capitulieren
und das »Seid unterthan der Obrigkeit!« zum Leitmotiv zu wählen;
abtrünnig von ihrem Stifter Luther, dem Revolutionär, in dem erst im
Alter der conservative Bauer die Oberhand behielt. Wir selber denken
buddhistisch, also »religiös«, und glauben an eine ewige Gerechtigkeit
des Ausgleichs, an innere Vergeltung, sowie an jene uralt indische
Auffassung unendlicher Fortdauer des unerlösten Ichs. Das gilt heute
als mystischer Blödsinn, aber der atheistische Materialismus, sehr gesund
als Rückschlag gegen hohle Dogmenkirchelei, hat bei vielen Denkenden
gründlich abgewirtschaftet und jene angeblich abstrusen Lehren der
alten Inder haben von jeher in den klarsten Köpfen wie Lessing,
Schopenhauer u. a. gläubige Verfechter gefunden, weil nur sie eine
Logik ins Weltbild hineintragen.

Nun wohl, Bismarck war eine gänzlich in »Sansara« befangene
Natur, die nach buddhistischer Auffassung noch endlos irren muss, ehe
sie je »Nirwana«, das liebevolle Aufgehen des Ichs im All, finden kann.
Hat er je wirklich religiöse Anwandlungen gehabt — und sein berühmter
Brief, er würde das Leben fortschmeissen wie »ein schmutziges Hemde«,
wenn er nicht an eine unsterbliche Seele glaubte, lässt darauf schliessen
— so gab er sich eben wie so viele der traurigen Verwechslung
hin, dass man einer »göttlichen« Weltordnung diene, wenn man dem
Moloch »Staat« — zum eigenen Vortheil notabene — Opfer bringe
und mit Vorliebe Menschenopfer. Ihn zu splitterrichten oder überhaupt
zu verdammen sind wir weit entfernt; das verbietet uns gerade unser
buddhistischer Glaube. Er hat seinen Selbstwahn ausgelebt, wie es
seiner Naturanlage gegeben war, und wird dafür die Vergeltung —
richtiger ausgedrückt: die logische Folge — durch neues »Karma«
finden, wie die Indier es auffassen. Es wäre ja auch möglich, dass

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 827, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0827.html)