Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 828
Die menschliche Wahrheit über Bismarck (Bleibtreu, Karl)
Text
wir uns täuschen, denn »ins Innere blickt nur Gott«, und wir müssten
gerade solche Pharisäer werden wie die angeblichen »Christen«, wenn
wir uns zum Moralrichter eines jeden machen wollten, der unsere
Meinungen verletzt. Für ihn, den Ich wähn, war die brutalste Gewalt
die einzige ultima ratio gegen den Socialismus, er hätte am liebsten
jeden aufgehängt, der seinem Ich widerstrebte, so wie er erbarmungslos
auch alle persönlichen Widersacher wie Arnim, Geffken u. s. w. zer-
drückte, wo es sich doch nicht mal um tiefere Principien handelte.
Der auf höherer Rotunde Stehende darf nicht in gleichen Wahn ver-
fallen, er muss zwar nicht verzeihen — denn auch das Verzeihen
steht uns nicht zu — aber milde belächeln, wie ein Ich in förmlichen
Krämpfen sich wand, um allen ihm missliebigen Dingen und Personen
die Lebensader zu unterbinden. Nur das eine dürfen wir nach schwacher
subjectiver Einsicht als historische Wahrheit empfinden: der erhabene
edle Wodan, zu dem heut die Teutonen ihn stempeln, war er eben-
sowenig, wie die genialen Porträtdichtungen Lenbachs allen authentischen
Photographien gleichen. Lenbach hat bewunderungswürdig Legende
gemalt, einen Ausdruck in seine Bismarck-Physiognomien hineingezaubert,
wie er seinem Künsterwesen entsprach, das einen solchen Helden sehen
wollte. Denn Bismarcks dämonische Erscheinung lud förmlich zur
Dichtung ein, wirkte artistisch. Auch wir haben in grüner Jugend
diesem urwüchsig Berserkerhaften ein paar mal dichterisch gehuldigt,
obschon wir schon 1886 mit Recht bekräftigten: »Nie paarte ich
mich jener Thoren Zahl, der Sclavenherde, die der Tag regiert,
die, als Erfolg mit Lorbeer dich geziert, dich angestaunt als ihren
Götzen Baal«. Man weiss ja aber mit dem Apostel, dass man, da
man ein Mann wird, abthut, was kindisch war. Der Verzückungs-
taumel der Bismarck-Raserei erscheint uns also heut als kindliche
Unreife, die wir schon sehr lange überwunden haben. Allein, das
Gerechtigkeitsgefühl blieb uns, einzugestehen, dass in einer Zeit der
Mittelmässigkeiten, die oft auch »moralisch« keineswegs höher stiegen,
die hochragende Gestalt dieses Willensmenschen immer noch das
würdigste Object bot, an das der Bewunderungstrieb der Menschen
sich klammern konnte. Vergleiche mit Gladstone und Cavour, wie sie
von Ausländern gezogen wurden, sind lächerlich und es muthet als
doppelsinnig rückwirkende Komik an, dass der elende Crispi in hoch-
trabenden Telegrammen sich seiner staatsmännischen Freundschaft
berühmte, die sich mit dem grossen Todten ganz eins wusste. Nein,
von solchen »liberalen« Schwätzern oder gewissenlosen Verbrechern
trennt unsern deutschen Bismarck eine ganze Welt, trotz aller Klein-
lichkeit seiner Ichsucht und aller Beschränktheit seines einseitigen
»Genies«. Bedeutungsvoller scheint es dagegen, dass der andere
»Geniale« des 19. Jahrhunderts, Ferdinand Lassalle, schon nach dem
ersten Auftreten Bismarcks auf dessen Gewaltmenschenthum schwor,
obschon er dessen unerhörte Erfolge nicht erleben, freilich auch nicht
das volle Ausreifen des Bismarck’sehen Despotismus ahnen konnte. Den
Junker und Arbeiterführer vereinte eben der gleiche glühende Hass
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 828, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0828.html)