Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 829

Die menschliche Wahrheit über Bismarck (Bleibtreu, Karl)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 829

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DIE MENSCHLICHE WAHRHEIT ÜBER BISMARCK. 829

gegen die »liberale« Bourgeoisie und das gleiche »nationale« Einheits-
streben. Aber von wie verschiedenen Gesichtspunkten aus! Ein Lassalle
hasste das satte Bürgerthum als Urtyp philiströser Selbstsucht, ein
Bismarck im Gegentheil als Hindernis für seine feudale Herschsucht.
Ein Lassalle hoffte von der Einheit ein schnelleres sittliches Erstarken
freiheitlichen Ausbaues im Innnern, ein Bismarck im Gegentheil ein
Erstarken preussisch-dynastischer Vorherrschaft und Machtfülle nach
aussen. Nur heuchlerische Unterstellung darf also der Socialdemokratie
unter die Nase reiben, dass ja ihr Gründer für Bismarck geschwärmt
habe: das war eben nicht der eiserne Kanzler, den wir heute kennen.
Doch wollen wir keineswegs Lassalle neben Bismarck an »geschichtlicher«
Grösse stellen, obschon des ersteren Werk das des letzteren überleben
wird, da Bismarck der Vergangenheit und dem Socialismus die Zukunft
gehört, wenn auch vielleicht nicht ganz im socialdemokratischen,
sondern gewissermassen monarchischen Sinne, welche Möglichkeit be-
kanntlich Lassalle gelten liess. Ob diese Socialmonarchie aus der alten
bestehenden, die sich auf neue Grundlagen stellt, hervorgehen würde,
ist wenig wahrscheinlich, unmöglich aber nicht. Wahrscheinlicher ist
freilich dieser Weg durch eine Dictatur à la Cromwell und Napoleon
(erster Consul), wie denn auch Robespierres gescheiterte Dictatur im
Grunde aufs gleiche hinauslief. Wenn der »treue Diener« Bismarck in
selbstischer Wuth zeterte: »Ich werde mich noch an die Spitze der
Socialdemokraten stellen«, so blieb er doch innerlich von allen modernen
Ideen eines Staatssocialismus und einer Socialmonarchie unangekränkelt.
Wenn aber ein geistvoller Mann am Ende des 19. Jahrhunderts der
socialistischen Weltanschauung jegliche Berechtigung abspricht und ihr
mit »Blut und Eisen« beizukommen meint, wie einst die Cäsaren dem
Christenthume, so mag er ein grosser Diplomat gewesen sein, aber
nicht einmal ein Staatsmann im höchsten Sinne und ganz gewiss kein
grosser Mann im eigentlichen Sinne des Wortes. Als Mirabeau Friedrich
dem Grossen in Sanssouci allerlei revolutionäre Tendenzen vortrug,
hörte ihn der König geduldig an und gestand zu, dass ihm vieles
daran einleuchte; da er aber sein »Metier« als König nun so lange
geübt habe, könne er sich nicht mehr auf seine alten Tage zu solchen
Anschauungen bekehren. So sprach eben ein grosser Mann, der geistig
Ebenbürtige und Freund der Voltaire und Rousseau, der in einer
seiner heroischen Versbeichten singt: »Unsere Unsterblichkeit ist,
den Menschen Wohlthaten zu erweisen«. Man nenne mir ein einziges
Wort Bismarcks aus seinem Todesjahr, wo der Mensch doch Ab-
rechnung mit sich hält, das eine Ahnung höherer Menschlichkeit
athmete! Denn wir müssen dem Einwand zuvorkommen, dass diese
Herrenmenschen à la Bismarck aus anderem Metall gegossen seien wie
die stillen Geisteshelden und Schöpfer, dass sie eben »Realpolitiker«
(o, viel gemissbrauchter Begriff!) und That-Gewaltige seien, die nicht
mit geistigen und moralischen Massstäben wie andere reinere Grössen
beurtheilt werden müssten. In der That überwiegt bei solchen
Naturen meist der »Wille« den »Intellect«, letzterer ist bei ihnen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 829, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0829.html)