Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 830
Die menschliche Wahrheit über Bismarck (Bleibtreu, Karl)
Text
nur ein Kriegswerkzeug des egoistischen, blinden Willens, wie
die Zähne beim Raubthier. Das stimmt für Peter den Grossen,
Dschingiskhan, Karl den »Grossen«, Sulla, Pitt, Richelieu, obschon
bereits Richelieu an feinerer Cultur und tolerantem Höhenblick
der Vorurtheilslosigkeit dem märkischen Junker unendlich überlegen
war. Nicht aber trifft es zu für die grössten Herrschernaturen, die
Cäsar und Alexander, die beiden deutschen »aufgeklärten Despoten«
Friedrich II. Hohenstaufen und Friedrich II. Hohenzollern, oder
gar für Cromwell und Napoleon. Diese dichterisch-philosophischen
Ideenmenschen, selbst meist als Dichter und Philosophen thätig,
gierigen bei genialster Beherrschung der »Realpolitik« doch innerlich
von grossen organisatorischen Gedanken aus. Alexander brütete mit
griechischen und indischen Weisen über das Weltgeheimnis, Cromwell
mit sich selber über die letzten religiösen Probleme. Friedrich der Grosse
war es sterbend »müde, über Sclaven zu herrschen«, Napoleon beugte
auf St. Helena sein Haupt vor Christus, »dem grössten Eroberer«, in
mächtigen monumentalen Worten. Cromwell wusste auf dem Todten-
bett, wo er sich heimlich der Abtrünnigkeit vom reinen Freiheitsideal
zieh, dennoch, dass er »einst in der Gnade war«, und verhauchte
seine Heldenseele in ergreifendem inbrünstigen Gebet: seine Sünden
möge Gott an ihm alleine strafen, seine Tugenden aber einzig dem
Volke heimzahlen — Überwindung des Ichs, wie nur wahre Grösse
sie ermöglicht. Wo haben seine delirierenden Anbeter je eine solche
Beichte grosser Gesinnung von Bismarck berichten können? Wenn
irgendein bedeutungsvolles Wort in den letzten Stunden gefallen wäre,
es prangte heute schon in bengalischer Beleuchtung. Nein, »Pinnow,
lieber guter Pinnow, gib mir zu trinken!«, das ist alles, was uns
rührend vermeldet wird, und Pinnow bekam dafür auch volle fünf-
tausend Reichsmark als Legat. (Siehe den famosen Process mit Ober-
förster Lange. Vergleiche auch die schlimmen Anspielungen v. Gerlachs
in der Wiener »Zeit«, der als Einschätzungssteuercommissar mit ihm
zu thun hatte.) Denn »der treue Diener« wusste treue Dienste zu
belohnen! Moltke hieng ihm zu sehr am Gelde, solchen Geiz ver-
achtete Bismarck, wie wir jüngst lasen unter stürmischem Heiterkeits-
erfolg; Doch es widersteht uns, in solchen Kleinlichkeiten zu wühlen;
wir enthalten uns daher aller nebensächlichen Untersuchungen, ob
seine Panegyriker ein Recht hatten, nur von »kleinen Schwächen«
zu reden. Und doch, wem taucht nicht beim Heimgang dieses »grössten
Deutschen«, den verrotteter Unverstand mit Napoleon dem Grössten
zu vergleichen, ja über ihn zu erheben wagt, ein anderes Testament
in der Erinnerung empor, jenes des Gefangenen von St. Helena, wo
mit ergreifender Gerechtigkeit und Dankbarkeit jeder kleinste Dienst,
jede Unterstützung von Anbeginn seiner Laufbahn als »Hauptmann«
vor Toulon durch legatäre Wohlthaten vergolten ward! Wer hierin
etwa eine Pose wittern wollte, beweist nur seine gänzliche Unkenntnis-
des heroisch wohlwollenden Löwen, von dem sogar einer seiner
Benörgler zugesteht: »Er vergass nie einen Dienst, dem man ihm
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 830, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0830.html)