Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 831
Die menschliche Wahrheit über Bismarck (Bleibtreu, Karl)
Text
gezollt«. Doch wir würden darüber wegsehen, möchte auch der
»grösste Deutsche« mit allergrössten Privatschwächen behaftet gewesen
sein, wenn er nur als öffentliche Historienfigur dem Bilde entsprochen
hätte, das ein nobelfühlender und reindenkender Mensch sich von
einem grossen Manne entwirft. Denn sehr richtig sagte Macaulay von
Karl I.: Man erzahlt uns immer, er sei ein treuer Gatte und guter
Vater gewesen, als ob uns das interessieren könnte, wenn er falsch
gegen seine Freunde und Diener, meineidig gegen sein Volk und ein
grausamer Tyrann gewesen ist. Da die bevormundende Weltanschauung
das tiefgefühlte Bedürfnis spürt, ihre Gewalthaber mit ethischem Nimbus
zu verklären und so abwechselnd von der Geistes- an die Charakter-
grösse zu appellieren, so machten die deutschen »Patrioten« in ihrem
fernstehenden naiven Dusel sich aus ihrem Abgott auch noch das
Ideal aller deutschen Tugenden, vornehmlich der »Treue«, zurecht.
Dass der Kanzler seinem alten Herrn zugethan war, weil dieser ihm
den Willen that, bezweifeln wir nicht: er musste ein Unmensch sein,
wenn er nicht so viel »Treue« bewahrt hatte. Aber der widerliche
Feldzug, den er von Friedrichsruh aus anzettelte, die unversöhnte
Rachsucht des guten Hassers, die auch schrill übers Grab hinaus tönt,
musste doch jedem die Augen öffnen, was unter dieser »Treue« aus
Eigennutz zu verstehen sei. Das nennt man monarchische Gesinnung!
Aber die Bismarck-Gläubigen haben auch hier wieder eine faule Ent-
schuldigung bei der Hand: dies ewige Stänkern sei aus heiliger
Vaterlandsliebe geschehen, weil der neue Cours »uns« zugrunde richte.
Worauf bezieht sich das? Da die Socialreform, zu der Wilhelm II.
ursprunglich hinneigte und gerade deshalb mit dem unmodernen Alten
in Zwist gerieth, langst ja zur Wollust der Bismarckianer versandete,
so kann doch nur das Verhältnis zu Russland in Frage kommen.
Aber wer hat denn eigentlich den Dreibund geschlossen, wer Russland
beim Berliner Congress über den Löffel barbiert, wofür wir ihm
aufrichtige Dankbarkeit schulden? Wenn er hinterm Rücken
Österreichs zugleich eine Rückversicherung mit Russland abschloss,
was er nachher mit unerhörter Indiscretion als kalten Wasserstrahl
benutzte, hat er darum minder einem beliebigen englischen Maler
(siehe jungst publicierte Erinnerungen) seine Überzeugung ausgesprochen,
dass wir bestimmt dereinst von Russland angegriffen wurden und das
Bündnis mit England das wünschenswerteste sei?! Worauf in aller
Welt pochte er also als eine Besonderheit seines alten Courses? Durch
alles Phrasengewebe schimmert immer wieder die Wahrheit durch
dass der junge, von Thatkraft, Selbstgefühl und moderner Anschauung
erfüllte Kaiser sich wunderte, weshalb man so selten ihm direct Vortrage,
halte, und die Aufklärung erhielt, dass sozusagen Bismarck der eigentliche
Regent sei. Und da soll man als objectiv Denkender sich über den Sturz
des »Riesen« und über angeblichen Undank entrüsten? Den jungen
Monarchen möchten wir entdecken, der je anders gehandelt hätte!
Man spricht sich am liebsten die Tugenden zu, die man nicht
hat: daher die Legende von deutscher Treue und Biederkeit. Unser
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 831, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0831.html)