Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 832

Die menschliche Wahrheit über Bismarck (Bleibtreu, Karl)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 832

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832 BLEIBTREU.

lieber Ahnherr, Hermann der Cherusker, betrog die Römer geradeso
wie Bismarck seine Gegner, und Heinrich v. Kleist, der unsere Eigenart
am besten verstand, lässt daher Varus ausrufen: »So kann man blondes
Haar und blaue Augen haben und doch so falsch sein wie ein Punier!«
Ein römischer Autor bestätigt ausdrücklich, dass auf dem weiten
Erdenrund kein listigeres, verschlageneres Volk lebe als die Germanen.
Dass der »grösste Deutsche« sich zum Nationalhelden eigne, in dem
das Germanenthum seinen Typus erblickt, kann in diesem Sinne
freilich nicht geleugnet werden. So wird denn kein Unparteilicher den
ostelbischen Junkern ihre stolze Todtenklage bemängeln können: »Er
war unser!« Das war er, er starb in den Siehlen, wie er gelebt, als
das hochmüthig bockbeinige Paradepferd der alten Weltanschauung
und die Pegasusflügel, welche schmeichelnde Legende ihm ankleben
möchte, sind eben nur Zeitungspapier. Aber grade hierin liegt
seine welthistorische Grösse
. Sein Todestag ist von noch höherer
symbolischer Bedeutung als der Tag seiner Geburt. Er erschien in
dem Jahre, wo die französische Weltherrschaft endgiltig gebrochen
wurde und das allmähliche Erstarken Deutschlands begann, und wie
Napoleons Todesjahr den Beginn einer unablässig weiterflutenden
Reactionswoge bezeichnete, die endlich in Bismarck ihren höchsten
Stand erreichte, so verschwand Bismarck in dem Augenblick, wo eine
neue Weltordnung ihr Haupt erhebt. Wie Napoleon der internationale
Weltbefreier wider Willen gewesen ist, so wurde Bismarck der natio-
nale Befreier wider Willen; er ist aus einem altpreussischen verbohrten
Junker ein grossdeutscher Staatsmann geworden. Denn dass er letzteres
wirklich war, so weit ihm dies möglich, daran ändert die Ansicht der
Gegner, dass er im Grunde nur ein Grosspreussen schuf, wohl objectiv,
aber subjectiv nicht das Mindeste. Der ältere Bismarck war nach bestem
Wissen und Gewissen ein Deutscher, kein Preusse, und wer könnte
verkennen, dass sein ganzes nervöses Naturell wohl »deutsch«, aber so
unpreussisch wie möglich sich darstellte! In dieser Beziehung gleicht
er dem Demokraten Blücher. Wie dieser Recke an Scharnhorst schrieb,
dass die Fürsten, wenn sie den Befreiungskampf nicht mitthun wollten,
mit Napoleon zugleich hinausgejagt werden müssten, so machte sich
Bismarck nichts daraus, altangestammte Dynasten mit einer Derbheit
zu beseitigen, die an Napoleons Formel erinnerte: »Das Haus so und so
hat aufgehört zu regieren.« Es heist also die Wahrheit bestreiten,
wenn man ihm den Rang eines »guten Revolutionärs« abspricht. Er
war im tiefsten Innern ein Umstürzler ohne jede Scheu und Schonung
vor ererbten Rechten, und wenn er sich einen Monarchisten nannte,
so meinte er nachher damit nur sein eigenes Herrschen. Ein Monarchist,
doch gewiss kein Legitimist. Seine Gleichgiltigkeit gegen historische
Mächte gieng so weit, dass er der ältesten und vornehmsten Welt-
macht, der Römischen Kirche, den Fehdehandschuh hinwarf, als diese
ihm seine Suprematie zu bedrohen schien. Sein trotziges Selbstgefühl
streifte sogar zeitweilig die Bande seiner Kaste ab, doch immer wieder
brach der triviale Junker durch. Seine plumpen Reiterstiefel staken

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 832, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0832.html)