Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 833

Die menschliche Wahrheit über Bismarck (Bleibtreu, Karl)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 833

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DIE MENSCHLICHE WAHRHEIT ÜBER BISMARCK. 833

noch tief im Mittelalter, d. h. im falsch aufgefassten legendären Feudal-
Mittelalter, ohne die starke Demokratie der Städte und theilweise der
katholischen Kirche in Betracht zu ziehen. Man hat viel von genialer
Originalität seiner äusseren Politik geschwatzt. Aber schon Friedrich der
Grosse wollte einen Norddeutschen Bund stiften, Österreich hinausdrängen;
schon er und der grosse Kurfürst, obschon beide sonst aus Hass gegen
Österreich den Franzosen zugethan, erkannten in Frankreich das Hin-
dernis für Zusammenfassen der deutschen Kräfte. Unzählige andere
dachten wie Bismarck. Zugegeben, er hat es ausgeführt. Aber dass
ihm dies so blitzschnell gelang, zeigt zur Genüge, dass eben »die Zeit
erfüllet war«. An dem inneren wirtschaftlichen Erstarken Preussens
bis zu den Sechziger-Jahren war er doch herzlich unschuldig, und
was hätten seine staatsmännischen Gewaltstreiche gefruchtet ohne die
Arbeit Roons, ohne die allgemeine Wehrpflicht, ohne all die glorreiche
Hinterlassenschaft der demokratischen Befreiungskriege, der Scharnhorst,
Stein, Schön! Wenn man aber das Legendengefasele hört, so sollte
man meinen, dieser »deutsche Napoleon« habe die Kriege geleitet,
die Schlachten geschlagen, und bei Unwissenden im Ausland bürgert
sich wahrhaftig schon dieser Mythos ein. Moltke hat seinen Ruhm
noch sorglich beiseite gebracht, eifersüchtig genug auf den Kanzler —
man lese die Klagen Bismarcks bei den Pariser Capitulations-Ver-
handlungen in Hérissons bekanntem Documentenbuch — aber Roon,
der ehrenhafte, pflichtstrenge, selbstlose Altpreusse im besten Sinne,
kam schon lange zu kurz. Wie darf man aber gar einen Cromwell,
Friedrich, Napoleon mit diesem »grössten Deutschen« an Genie und
Arbeitskraft vergleichen! Waren sie angewiesen auf fremde Beihilfe
zur Ausführung ihrer Pläne, waren sie nicht die Organisatoren und
Feldherren ihrer Staaten wie ihrer Heere auf allen Gebieten, um ihre
Staatskunst nach aussen und innen durchzusetzen? Die Deutschen haben
in Friedrich dem Grossen wahrhaftig schon ihren wahren Nationalhelden,
ins Dämonisch-Gigantische gereckt und bei allen Schwächen doch von
unvergleichlich reinerer Vornehmheit des Wesens, um nicht diesen
Bismarck-Mythos für chauvinistische Verblendung zu bedürfen.

Mit der »Originalität« des »grössten Deutschen« ist’s überhaupt
ein eigen Ding. Er hat ausgerufen: »Der kommt am weitesten, der
nicht weiss, wohin er geht« — ja wohl, das hat Cromwell gesagt!
Er prägte den Witz: »Ein König sollte sich nie ohne ministerielle
Bekleidungsstücke zeigen« — ja wohl, das hat er von Napoleon!
Aber was sagte der? »Ein König ist nicht in der Natur, er ist nur
in der Civilisation. Deshalb hat er nichts Nacktes, er muss bekleidet
sein.« Dort Napoleon: eine grandiose Weltanschauung in zwei Sätzen,
monumental. Hier Bismarck — ein Berliner Witz auf plagiatorische
Anregung. Dass ihm hie und da geistreiche Wendungen und Gleichnisse
gelangen, sei zugegeben. Im ganzen sind seine Reden ohne tieferen
Gehalt. Man sehe sich doch die sogenannten Bismarck-Katechismen
durch, nichts als banale Redensarten wie die erbärmliche Phrase:
»Wir Deutsche fürchten Gott«. Man sollte sich über eine Nation

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 833, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0833.html)