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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 851

Text

NEUES VON NEUSEELAND.
Von Dr. LADISLAS GUMPLOWICZ (London).

Gestern Nachmittag war ich in der Baptistenkirche in Westbourne
Park. Was hatte ich Gottloser dort zu suchen?

Es war kein Priester noch Theolog, den ich zu hören kam. In
angelsächsischen Landen, diesseits wie jenseits des Weltmeeres, ist es
ja längst nichts Seltenes mehr, dass der Seelsorger seine Kanzel für
eine Stunde oder zwei irgend einem berühmten Laien zur Verfügung
stellt, der über weltliche, namentlich sociale Fragen etwas Neues und
Wichtiges zu sagen weiss. Hat doch kürzlich in Detroit sogar die
Anarchistin Emma Goldmann von der Kanzel herab gesprochen,
zum Entsetzen der Orthodoxen. Deuten solche Vorgänge einerseits
auf ein Schwinden und Sichverflüchtigen des alten Dogmenglaubens,
so liegt in ihnen andererseits eine positive, naturgemässe Vorwärts-
entwicklung. Das Christenthum der Angelsachsen war eben von vorn-
herein keine blosse Religion für Sonntagsekstasen, sondern ein hand-
fester, hausbackener Werktagsglaube, bestimmt, in treuer und redlicher
Übung der Werktagspflichten gegen den Nächsten seine Erfüllung zu
finden. Im vorliegenden Fall war der Vortragende Mr. Reeves, der
frühere Arbeitsminister der autonomen englischen Colonie Neuseeland.
Gleich der Regierung, der er angehörte und die er jetzt als General-
agent in London vertritt, und gleich der Mehrheit seiner Landsleute
ist Reeves ein eifriger Socialist; sein Vortragsthema waren die socia-
listischen Reformen, die seit 1890 in seiner Heimat durchgeführt wurden
und noch durchgeführt werden.

Also: ich machte mich am Sonntag Nachmittag auf die Stiefel,
fuhr per Untergrundbahn quer durch London, stieg in einem freund-
lichen schmucken Stadtviertel wieder ans Tageslicht, und fragte nach-
einander zwei städtische Polizisten um den Weg. So kam ich nach
Westbourne Park Baptist Chapel.

Hier im Flachland wird das menschliche Auge anspruchlos; es
hat ja so wenig Gelegenheit, in die Höhe zu schweifen. Darum sieht
man in der Weltstadt London so oft, was in den ärmlichen Gebirgs-
dörfern Steiermarks unmöglich wäre: eine Kirche ohne Thurm. Dafür
aber prangten die Fliederbüsche zunächst der Kirche im lichtesten
Frühlingsgrün.

Drinnen wies mir ein junger Mann in Schwarz meinen Platz an und
drückte mir ein Gesangsbuch in die Hand. Gleich darauf ordnete der
greise Pfarrherr das Absingen einer Nationalhymne an. Die Leute erhoben
sich und sangen; ich erhob mich auch. Während diese Männer und
Frauen ihren Gott für ihre eigene fruchtbare Culturarbeit priesen, stieg

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 851, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0851.html)