Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 852
Neues von Neuseeland (Gumplowicz, Dr. Ladislas)
Text
in mir ein unheimliches Erinnerungsbild auf: die Gefängniskirche der
Maskenabtheilung von Plötzensee, wo jeder Sitz einen eigens verschliess-
baren, engen Isolierkäfig bildet, damit auch während des Gottesdienstes
die Gefangenen einander nicht sehen noch sprechen können
Und auch an den Gefängnispastor musste ich denken, jenen streit-
baren Staatspriester, der niemals spontan auf Christi Bergpredigt zu
zu sprechen kam, um so öfter dagegen auf Mirjams zerstörungsfrohen
Triumphgesang, der sich so prächtig als Text zu Sedantagspredigten
brauchen liess
Das Lied war zu Ende. Es folgte die Verlesung einer Textstelle
aus der Genesis, wie Abraham mit seinen Hebräern Kanaan colonisierte.
Dann noch ein Lied von goldenen Saaten, reichen Obstgärten und
üppigen Reben, die an mancher Küste grünen. Dann stellte der Pfarr-
herr mit kurzen einfachen Worten den Mr. Reeves vor.
Der Vortragende, ein schlanker schwarzhaariger Mann von gegen
vierzig Jahren, that die Einleitungsformeln möglichst kurz ab und kam
zur Sache. Nach einigen Bemerkungen über die Stärke der Arbeiter-
partei in Queensland, Neusüdwales, Victoria, und über die socialistische
Regierung von Südaustralien kam er auf Neuseeland zu sprechen.
Unter den dortigen Colonisten, erzählte er, herrschten ursprünglich
individualistische, staatsfeindliche Tendenzen vor. Es waren Männer,
die alle Ursache hatten, den Regierungen ihrer diversen Vaterländer
gram zu sein; vielfach war es gerade der Wunsch, jeder Regierung
so weit als möglich aus dem Gesicht zu kommen, was sie nach dem
fernen Antipodenlande lockte. Aber um ihre individualistische Gesinnung
wirksam zu bethätigen, mussten sie den Weg freiwilligen genossen-
schaftlichen Zusammenschlusses betreten; und die genossenschaftliche
Praxis brachte sie schrittweise zur Erkenntnis, dass sie die private
Cooperation durch die öffentliche ergänzen, also demokratische Socia-
listen werden mussten.
Zur Zeit sei Neuseeland das demokratischeste Land der Welt —
demokratisch vor allem in dem Sinne, dass die grosse Masse des
Volkes nicht bloss das formelle Recht habe, das Land selbst zu
regieren und zu verwalten, sondern dieses Recht auch thatsächlich
ausübe. Schon vor 1890 sei der Boden für socialistische Reformen
ein günstiger gewesen, schon damals besass der Staat die Eisenbahnen
und den grösseren Theil des Grundes und Bodens. Aber erst in dem
genannten Jahre, nach erfolgter Verschmelzung der Arbeiterpartei mit
den »socialistischen Liberalen« (beiläufig was man in Wien Social-
politiker nennt) zu einer einheitlichen socialistischen Partei, begann
eine Aera zielbewusster und energischer Fortschritte. Vor allem ver-
kauft der Staat keine Grundstücke mehr als »freies«, d. h. beliebig
verkäufliches, mit Hypotheken belastbares und verauctionierbares Eigen-
thum; er gibt es nur mehr an Nutzniesser ab, und zwar in immer-
währende Pacht. Der Pachtvertrag kann leicht und mit geringen
Kosten übertragen werden, aber der Staat acceptiert den neuen Pächter
nur dann, wenn auch er das Grundstück selbst bewohnt und bebaut;
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 852, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0852.html)