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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 853

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NEUES VON NEUSEELAND. 853

dadurch wird die Bildung von Latifundien ebenso verhindert wie
anderweitiger Bodenwucher. Den schon bestehenden Latifundien rückt
man theils durch progressive Besteuerung zu Leibe, theils durch Rück-
kauf und Parcellierung. Eine Reihe weiterer Reformen befasst sich mit
den Industriearbeitern. Vor allem wurden alle die Coalitionsfreiheit
beschränkenden Gesetze aufgehoben. Die Arbeit von Kindern unter
14 Jahren wurde verboten; Frauen, sowie Knaben unter 16 Jahren
dürfen nur zwischen 8 Uhr morgens und 6 Uhr abends beschäftigt
werden, im ganzen nicht länger als 48 Stunden per Woche; alle
Werkstätten bleiben von Samstag 1 Uhr nachmittags bis Montag
8 Uhr früh geschlossen. Ähnlicher Art sind die Schutzgesetze für die
Handlungsgehilfen: Neunstundentag, Sonntagsruhe, ein halber Feiertag
in der Woche; für die Ladenmädchen müssen Sitzplätze vorhanden
sein. Ferner kann jeder Lohnstreit in Neuseeland auf Verlangen auch
nur einer der Parteien einem Schiedsgericht unterworfen werden, das
zur Hälfte aus Unternehmern, zur Hälfte aus Arbeitern zusammen-
gesetzt und berechtigt ist, bindende Entscheidungen zu fällen. Während
eines fünfjährigen Bestehens wurde das Gesetz fünfundzwanzigmal ange-
wendet; als Ergebnis rühmt Mr. Reeves, dass seit dieser Zeit in Neu-
seeland kein Streik mehr vorgekommen ist, während die schieds-
gerichtlichen Entscheidungen den Arbeitern sehr bedeutende Vortheile
gebracht haben.

Noch sprach Mr. Reeves von der progressiven Einkommensteuer,
welche bestimmt sei, das Aufkommen von Millionären in Neuseeland
zu verhindern. »Wir brauchen keine Millionäre!« — diese Worte ent-
fesselten einen ungeheuren Beifall. Ferner erwähnte er das Alkohol-
gesetz, das den einzelnen Gemeinden das Recht einräumt, nach Gut-
dünken die Schenkwirtschaften oder einen Theil derselben zu schliessen;
endlich das Frauenstimmrecht. Dasselbe habe die Gruppierung der
Parteien nicht wesentlich verändert, wohl aber sei manches zweck-
mässige Detail in den Gesetzen zum Schutze der Arbeiterinnen und
Ladenmädchen, sowie in den Vorschriften über Schulwesen und Kranken-
pflege der Mitwirkung der Frauen an der Gesetzgebung zu verdanken.

Im ganzen sprach der Redner in einem ziemlich nüchternen Tone,
und schien sichtlich bestrebt, willkürliche Übertreibungen zu vermeiden.
Er war sich sehr wohl bewusst, dass der Wert eines Gesetzes nicht
allein von seinem Wortlaut, sondern vor allem auch von der Art und
Weise der Durchführung abhängt; er versicherte aber, und zwar
speciell mit Bezug auf die Arbeiterschutzgesetze, dass diese Durch-
führung eine energische und wirksame sei. Von irgendwelcher religiösen
Färbung dieses in einer Kirche gehaltenen Vortrages war absolut
nichts zu spüren, auch nicht anspielungs- noch andeutungsweise.

Das Publicum verhielt sich zustimmend, und brach an vielen
Stellen in sehr temperamentvollen Beifall aus — bezeichnenderweise
meist gerade dann, wenn der Redner recht prosaische, praktische
Details erwähnte, z. B. die Sessel für die Ladenmädchen. Es war eine
frohe Botschaft, die gestern in der Baptistenkirche verkündet wurde.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 853, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0853.html)