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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 854

Text

DEAR LITTLE GIRL!
Von ELSE MEYER-FÖRSTER (Berlin).

Das arme Ding stand an der Strassenecke wie ein verlaufener
Hund. Wo sollte sie hin, du lieber Gott — wo wollte sie hin? Zwei
Jahre verheiratet gewesen, und ein Kindchen gehabt, und den Mann
lieb gehabt und dann Prügel bekommen, und nun gleichgiltig und
stumpf — entlaufen wie ein Hund.

Die Trambahnen rasselten vorüber, die rothen und gelben und
grünen Lichter lächelten trübe durch die Nacht. Frühlingsdunst ballte
sich zwischen den Häusermassen, und in diesem warmen, berauschenden
Dunste hoben die Menschen ihre Köpfe gleichsam durstig. O trinken,
trinken, dies heiss zusammengedrängte Grossstadtleben — nur nicht
nach Hause gehn, in Kasernen, über dumpfe Stiegen! In die Kaffee-
gärten mit den schwächlichen, symmetrisch aufgestellten Lorbeer-
bäumchen ergossen sich die Menschenströme, überfluteten mit hellen
Kleidern und Farben die Dürre und Dürftigkeit dieser Plätze. Auf
den kleinen, runden Tischen lag der trockene Frühlingsstaub, den die
Damen mit ihren rosa und weissen seidenen Ärmeln wegwischten.
Geputzte Strassendirnen, die vorüber wallten, hoben halb ihre Kleider
und liessen die Spitzen ihrer Unterröcke und die Absätze ihrer müde
gelaufenen Schuhe sehen. Die Männer an den Tischen sahen blasiert
und welk und überdrüssig aus. In ihrem Hirn, in ihren Sinnen brannte
der Durst — die Grossstadtlebensucht, aber äusserlich hatte dieselbe
an ihnen verzehrt, was zu verzehren war, den frischen und frohen Blick,
die Kraft zum Genuss, den Willen zur Liebe. Es war ein unechter
schrecklicher Frühling, der in ihren Adern brauste, Alkoholrausch des
Gefühls, der von jedem Rascheln eines vorüberrauschenden Seiden-
kleides, von jedem blitzschnell aufzuckenden, auffordernden Blicke
nervös gesteigert ward.

Zu gewaltsam, zu künstlich erzeugt war dieses Frühlingsfieber
der Grossstadt, nirgends eine Oase zum Ausruhen. Hast und Taumel,
nirgends ein gütiges Gewähren, nirgends Ruhe, Träumen, Duft. Wohin
sollte sie, das arme Weib, inmitten dieser Brandung? Sie war noch
jung, mit Kinderaugen, mit langen, zarten Armen der unreifen Mädchen
und einer warmen, jungen, längst schon mütterlichen Brust. Sie wusste
alles vom Leben, und hatte ihr Kindchen mit Schmerzen empfangen,
und dennoch, an dieser Strassenecke stehend, wusste sie nichts, nichts
von den Menschen, nichts von sich selbst, nichts vom ganzen, grossen
Dasein. Versunken in stumpfes Nichtswissen, Nichtsfühlen und Nichts-
begreifen stand sie da; die Stirnlocken fielen ihr ins Gesicht.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 854, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0854.html)