Text
Heim gieng sie nicht; heim nicht. Er hatte sie ja geschlagen.
Das Dienstmädchen würde ihr öffnen müssen; die hatte es mit ange-
sehen. Nein, nimmermehr trat sie unter die Augen dieses Dinges.
Auch das Kindchen hatte es mit angesehen, und geschrien, und die
Händchen nach ihr ausgestreckt. Nimmermehr konnte sie ihrem
Kindchen vors Angesicht.
Gibt’s keine Asyle in dieser Welt? Wo soll sie Geld hernehmen
um zu nächtigen, zu essen, zu trinken, zu leben, Tage, Nächte, Tage
— eine kleine, verlorene Beamtenfrau, wie sie ist? Nichts hatte sie
zu sich gesteckt, keinen Kreuzer, nichts. In ihren kleinen, rothen
Hauspantoffeln war sie auf und davon gegangen. Nun stand sie an
der Ecke.
Erleuchtet hob und wölbte sich das Opernhaus, die ganze Ring-
strasse glühte und prahlte. In ihren geblendeten Augen, in denen
die Thränen starr und funkelnd standen, verdoppelten sich die Lichter,
sie sah nichts mehr als eine einzige, wundervolle, reiche und üppige
Glut. Was war sie selbst zu diesem vielen Licht, sie armes, herver-
irrtes Geschöpf, ohne Mann, ohne Kind, ohne Asyl, mit den rothen
Flecken erhaltener Schläge auf den Wangen!? — —
Jemand berührte ihre Schulter. Sie zuckte empor und trat etwas
zurück, dann murmelte sie mechanisch ein Wort.
Ein Fremder hatte sie an der Schulter berührt. Er kannte nicht
die Stadt, er fragte sie nach dem nächsten Wege zum Prater hinaus,
und als sie bescheiden und schüchtern antwortete, bat er sie, ein paar
Schritte mitzugehen und ihm die Richtung zu zeigen.
Sie gieng mit, in furchtbarer Angst, dass er ihre rothen Morgen-
schuhe sehen könnte. Er hatte so anständig und höflich zu ihr
gesprochen, ihr kleines, zertretenes Bürgerinherz hob sich und wurde
einen Moment wieder froh. Sie antwortete bescheiden und anständig,
in derselben Weise wie er sie gefragt hatte, und es durchschauerte
sie freudig, dass er »Mrs.« zu ihr sagte, das — wusste sie von der
Schule her — war so gut wie »gnädige Frau«. Um einen ebenso
höflichen Ton festzuhalten, sagte sie »Sir« zu dem Fremden, nach
jedem zweiten Wort »Sir«, — »yes, Sir«, — »no, Sir«, so dass ihm
ordentlich zu Muthe sein musste, als spräche er zu einer Landsmännin.
Yes, Sir. No, Sir. Die ganze Ringstrasse entlang. — — — — —
Er liebte wirklich dies kleine, entlaufene Weibchen, der Englishman.
Ein flotter, schöner, grosser Junge wie er war, von altem Herkommen,
mit vielem Geld in der Tasche, war er doch frisch und unverbraucht
geblieben, drüben im Arbeitslande. Nichts Besseres hätte er finden
können, sagte er zu sich selbst, als dieses zarte, gütige Weibchen,
dessen Sprache er nicht verstand — ausser yes Sir und no Sir und
noch einigen anderen Landläufigkeiten — von dem er aber heraus-
fühlte, dass es irgendwo gutem, bürgerlichem Boden entsprossen;
was er zu würdigen verstand. Nie, nie wäre er mit einem Mädchen
von der Strasse gegangen, er liebte die blendende Sauberkeit, — und
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 855, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0855.html)