Text
mischt, dass man zittert, eine Freude zu ergreifen, aus Furcht, eine
Schlange in der Hand zu halten — eine geliebte Hand zu fassen, aus
Furcht, sie könnte unter unserem Griff zu Asche werden. Ja! Ein
prachtvolles Bankett ist das Leben — aber die Schüsseln sind
vergiftet.«
»O, wie ungerecht Du bist! Warum das Übel als Sinnbild der
Schöpfung ansehen? Warum nicht das Gute?«
»Weil der Tod stärker und länger ist als das Leben, und weil,
so viel ich’s zu erkennen vermag, die Mächte des Bösen viel stärker
sind als die des Guten.«
»Der Tod,« erwiderte sie, »ist nur Leben, das seinen Schleier
vor das Antlitz zieht, um es schöner in einer andern Welt wieder zu
entschleiern; und ich glaube, dass die Mächte des Bösen nur Gottes
Krieger in Verkleidung sind. Hast Du aber recht und das Böse wäre
wirklich stärker als das Gute — ist das nicht ein Grund mehr, auf
Gottes Seite zu sein? Ja,« setzte sie hinzu, als die beiden langsam
den Hügel hinuntergiengen, »auch Dich werde ich eines Tages dort
treffen.« — —
Der Mann erwiderte nichts, aber er dachte: »Wenn ich Gott
wäre, würde ich mehr Frauen, wie Du eine bist, erschaffen, damit die
Männer an mich glauben könnten.«
Bald darauf kehrte er zu seinen Geistesgenossen, den Anbetern
der Schönheit, zurück. Aber sie waren in seinen Augen nicht mehr
dieselben. Er hatte etwas erfahren, gewisse Empfindungen ahnend in
sich aufgenommen, die ihnen verborgen waren, obwohl er kaum hätte
sagen können, was das war. Selbst die Schönheit schienen sie nicht
mehr richtig zu verstehen.
Manchmal vernahm er eine süsse, ruhige Stimme auf einem
Berggipfel im blauen Äther sprechen: »Ihr betet den Boten an und
vergesset darüber die Botschaft die Botschaft der Schönheit ist
die Güte Gottes« — doch vergass er dabei nicht, dass diese Botschaft
auch einen Boten gehabt hatte.
Dann sehnte er sich noch einmal zurück zu diesen milden, klug-
zufriedenen Menschen, mit den freundlichen Lebensgewohnheiten und
den leuchtenden Blicken. Diese rührenden, kindlichen Redewendungen
wollte er gerne wieder hören, den seltsam-heimlichen Geschichten von
erhörten Gebeten lauschen, um seine Seele zu heilen mit ihrer weisen,
einfachen Ergebenheit.
Manchmal hätte er fast — beten mögen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 850, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0850.html)