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wollte, eine Religion der Liebe, eine mächtige Brüdergemeinde der
Liebenden und der Liebenswerthen.«
»Du meinst also, dass diese Liebe Gottes eine mystische Offen-
barung ist, welche durch keine Anstrengung der Verstandeskraft erfasst
werden kann?«
»Würde die Verstandeskraft hinreichen, die Offenbarung zu
gewinnen, welche ich, vielleicht mit Unrecht, mit einer so viel höheren,
transcendentalen Liebe verglichen habe?«
»Würde überhaupt eine Bemühung zu dieser Offenbarung
verhelfen?«
»Nur was ich eine Bemühung des Herzens nennen möchte,
eine bescheiden abwartende Haltung, ein Horchen der Seele. Der
Intellect allein ist dem Leben gegenüber mehr blind als sehend. Das
Herz und selbst die Sinne — wenn unter richtiger Leitung — sind
ein besserer Führer. Unsere einfachsten Einfalle sind unsere wahrsten,
unsere plötzlichen Impulse unsere edelsten — oder verwerflichsten.
»Du, ich weiss es, hast manchmal ein Gefühl, als müsstest Du
niederknien zum Gebet, aber hundert hochfliegende Gedanken ver-
drängen und beschämen diese Regung. Du nennst sie selbst die Macht
alter Erinnerungen und nicht ein Bedürfnis Deines Herzens; oder Du
meinst, Du kannst gerade so gut auf Deinem Morgenspaziergang beten,
oder wenn Du Musik hörst. Das kannst Du auch, wenn Du wirklich
beten willst; aber selbst in diesen Augenblicken wirst Du auf dem
Grunde Deines Herzens einen letzten Rest von Verstandesstolz finden,
der nicht mitknien will. Bis nicht das ganze Wesen niederkniet, gibt es kein
Gebet. Das Herz kann sich Gott nicht öffnen, solange noch im Kopfe
ein Gedanke ist, der es verschliesst. Aber lass das Herz sich nur ein
klein wenig öffnen, und augenblicklich wird es von Licht und einem
wundervollen Tönen überfluthet sein.«
»Wenn nun aber das Herz blind geboren ist?« fragte der Mann.
»Ich glaube nicht, dass jemals Herzen ganz blind geboren sind;
wenn es aber solche gibt, so ist das auch eines der Geheimnisse
Gottes.«
»Die Geheimnisse Gottes! Damit möchtest Du alles Böse aus
der Welt erklären. Ist das nicht eine zu leichte Erklärung so vieler,
schwieriger Probleme?«
»Nein; sie ist manchmal sehr schwer; aber Du darfst nicht
vergessen, dass wir uns den Mysterien der göttlichen Liebe anzu-
vertrauen gelernt haben. Und ich möchte glauben, dass selbst einer,
der das Leben ansieht wie Du, viel darin erblickt haben müsste, das
für die Liebe Gottes Zeugnis ablegt. Wenn alles, was wir sind und
haben, von Gott stammt, so sind wir ihm doch wohl mehr als eine
blosse Kritik des Lebens schuldig, das wir nicht ergründen können;
zumindest Dankbarkeit für die vielfachen Wunder des Daseins — für
die Offenbarung der Schönheit zum Beispiel.«
»Ich möchte es wissen,« grübelte der Mann »im Leben ist
ja gewiss vieles süss, aber es ist so spitzfindig mit dem Schrecklichen ver-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 849, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0849.html)