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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 848

Text

848 LE GALLIENNE.

»Ja. Einmal habe ich ein Weib so geliebt.«

Ihr Gesicht wurde eine Secunde lang wie von einer Erinnerung
überschattet. Dann sagte sie:

»Die Liebe zu Gott ist so. Du kannst keinen Grund angeben,
wie sie kam und wie oder warum sie sich erhält. Eines Tages kommt
diese erhabene Seeligkeit über Dich und Du weisst dann, dass, so
lange Du lebst, sie Dein höchstes Heiligthum sein muss. Die Liebe
zu Gott ist eine Liebe, die keine Fragen stellt und wenn es Vieles
gibt, was sie nicht begreifen kann, was ihr seltsam und dunkel
erscheint, so bleibt doch ihre Zuversicht unerschüttert. Wenn Du
nur ein einzigesmal die Liebe im Auge Gottes gesehen hast, so
kannst Du niemals wieder um die Welt in Sorge sein.«

»Deine Beweisführung ist gefährlich,« antwortete nach kurzer
Pause der Mann, »und in eine andere Form gekleidet, würdest Du
selbst zögern, sie anzuerkennen. Denn ist es nicht im Grunde die alte
Entschuldigung für die Macht, die so oft der Halbgott beansprucht,
die Du auf Gott selber anwendest, die auch auf zwei der gewaltigsten
Erscheinungen der Macht, Schönheit und Liebe, passt? Alle kräftigen
Thaten — die wir in gute und schlechte einzutheilen gewohnt sind —
tragen eine Tugend der eigenen Kraft in sich, welche unseren Durch-
schnittsmassstab von Recht und Unrecht unanwendbar macht. Ausser-
dem ist die Kraft selbst, im beschränkten Sinne von Gut und Böse,
auf die Dauer doch niemals im Unrecht. Manche sogenannte gute
That ist im Laufe einer Generation in eine schlechte umgewertet
worden, während viele sogenannte schlechte Thaten, weil sie stark
waren, auf Jahrhunderte hinaus gute Früchte getragen haben. Denn
um im grossen Massstabe Moralist zu sein, muss man oft Immoralist
im Kleinen sein. Dies ist natürlich ein Gemeinplatz unter den Philo-
sophen, aber ich staune, ihn aus dem Munde einer Christin zu ver-
nehmen; denn der Christ hält sich in der Regel an die unmittelbare
Farbe unserer Handlungen, die er mit schwarzer oder weisser Etikette
beklebt, sobald sie begangen sind, ohne individuelle Anlage oder
die Macht der Umstände — oder auch einen möglichen Ausgang, der
weder schwarz noch weiss ist — in Rücksicht zu ziehen.«

»Das Christenthum verändert sich,« fiel sie ein, »in seiner Ge-
stalt, wenn auch nicht in seinem Wesen. Sein Herz ist ganz dasselbe
geblieben, aber sein Kopf ist besser geworden! Es versteht die Mensch-
heit tiefer, oder vielleicht sollte ich sagen, die Menschheit versteht
das Christenthum tiefer. Ich will also kühn sein und Deine Aus-
führungen mit »Ja« beantworten. Ich glaube aber doch, dass es ein
Element gibt im Weltall, das schlechte Macht heisst, aber ich
meine, dass das künftige Christenthum auch darin einsichtiger sein
wird, als das vergangene, dass es eher die schlechte Macht in soge-
nannten guten Menschen und guten Thaten entdecken wird! Es wird
eher den Mann selbst, als seine Thaten beurtheilen, wird Männer und
Frauen nach guten und bösen Naturen, statt nach den äusseren Lebensvor-
schriften unterscheiden. Es wird immer mehr das werden, was Christus

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 848, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0848.html)