Text
»Und Du hast gelitten?«
»Ja, ich habe gelitten.«
»Und Gott hat Dich getröstet?«
»Ja.«
»Hast Du dabei nie gedacht, dass Gott es war, der Dich zuerst
leiden liess?«
»Ja; das war zum Theil mein Trost.«
»Vergib. Aber ich muss es wiederholen: Wie eigenthümlich!«
Ein langes Schweigen umfieng sie beide. In weiter Ferne
winkte die Sonne ihren Abschiedsgruss mit buntem, feierlichem Schau-
gepränge und die Erde schien still zu stehen, um ihr nachzublicken.
Unermesslicher wuchsen die Abgründe des Raumes. Die Sinne der
beiden Wächter auf der Höhe schienen eine unendliche Kraft der
Ausdehnung und des Erfassens zu gewinnen, als sei Platz in ihrer
Seele für noch erhabenere Einsamkeiten, ungemessenere Höhen und
Tiefen und überwältigendere Pracht. Wie gross die Welt — und doch
kann ein kleines Menschenauge sie fassen. Staunenswert — und doch
nicht so staunenswert wie die Menschenseele
Das Weib unterbrach zuerst das Schweigen.
»Ich habe darüber nachgedacht, wie ich Dir auf verständliche
Art erklären könnte, was das Wesen meiner Liebe zu Gott ist. Es
scheint unmöglich, es in Worte zu fassen, aber ich habe an ein
Gleichnis gedacht, das wohl unbedeutend erscheint im Vergleich und
das ich eigentlich nicht gebrauchen sollte, das Du aber, glaube ich,
nicht missverstehen wirst. Du, der Du die Schönheit liebst, weisst ja,
wie arm häufig das körperliche Symbol ist, durch das wir einen
schönen Gedanken zum Ausdruck bringen können.«
Der Mann nickte zustimmend. Sie fuhr fort, den verschleierten
Blick auf die untergehende Sonne gerichtet: »Du wirst es kennen
gelernt haben, was es heisst, einen geliebten Freund zu besitzen —
der Dir vielleicht ganz unähnlich ist, mit anderen Gaben, anderen
Träumen, mit einer anderen Religion, vielleicht ganz ohne Religion.
Vielleicht blieb Dir manches in ihm unverständlich, das du bedauertest,
fürchtetest, vielleicht sogar hasstest. Möglicherweise war er oft
unfreundlich, hart, fast abstossend, sündigte wohl auf eine oder die
andere Art, die Dir völlig unbegreiflich schien. Es mag vorgekommen
sein, dass er Deine heiligsten Ideale und die Liebe, die Du ihm
entgegenbrachtest, mit Füssen trat. Und trotz alledem, Du kannst
nicht sagen warum, hast Du keinen Augenblick aufgehört ihn zu
lieben, nie im Ernst daran gezweifelt, dass unter diesen Zufällen des
Charakters und der Umstände Dein echter Freund im Grunde ein
guter, edler und wunderbarer Mensch ist. Daran konnte keine That
etwas ändern. In seinen schlimmsten Handlungen war etwas, das sie
besser machte als die guten Thaten anderer. Hast Du einen solchen
Freund gehabt?«
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 847, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0847.html)