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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 846

Text

846 LE GALLIENNE.

hinweg zu den freundlichen, weissschimmernden Dörfern hinüberblickte.
Vom Himmelsdom aus betrachtet, mochte die Erde wohl gesegnet
erscheinen! Sah Gott sie vielleicht auch nur so von seiner Höhe
herab? Sah er nicht die blutigen Schwären, hörte das Wehklagen
nicht? Aber Gottes Sohn hatte hier doch alles gesehen und alles
erduldet. Hatte Er sie nicht dahin begleitet, Tag und Nacht durch diese
verpesteten Gassen, und im Lichte Seines Antlitzes hatte sie da nicht
die Bedeutung dieser Dunkelheit gelesen?

»Ja, es ist furchtbar,« wiederholte sie, aus ihrem Sinnen
erwachend, »und als ich das zuerst sah, dachte ich ebenso wie Du.
Aber als ich dann näher herantrat, es häufiger sah, es besser kennen
lernte, hinter sein schreckliches Antlitz blickte da, ich kann’s
nicht erklären warum, obgleich mein Mitleid sich vertiefte, stieg mein
Glaube höher und höher und meine Angst schwand. Leid ist ein so
räthselvolles Ding; sollen wir seinen Sinn aus einem einzigen
erschreckenden Anblick errathen können? Viele, die mit dem Leid
zusammen lebten, haben es mit der Zeit seltsam lieben gelernt. Du
selbst, ich sehe es Dir an, bist halb verliebt in Dein Leid.
Wenn unsere eigene Trauer uns so theuer werden kann, können
andere nicht auch Kronen tragen, die wir nicht sehen? Obwohl Du
behaupten magst, dass die Sorgen unserer Mitmenschen für uns nur
Schemen sind, so ist es nicht weniger wahr, dass sie uns häufig
schrecklicher erscheinen, als unsere eigenen. Wir kennen unsere
eigenen schon; die der andern erschrecken uns mehr, weil wir sie
noch nicht kennen. Das Entsetzliche ist nicht mehr so entsetzlich,
wenn wir es schon selbst durchgemacht haben.«

»Wie eigenthümlich,« sagte der Mann, wie zu sich selbst, während
er sie mit einem Blick von halb verlegener Bewunderung betrachtete.

»Was ist eigenthümlich?«

»Dass Du, ein Weib, so zart, so weise, so voll Liebe, es
unternimmst, solch ein Wesen zu vertheidigen, solch ein «

Das leise »Halt!« war wieder auf ihren Lippen.

»Du weisst doch,« fuhr er fort, »dass, wenn Du selbst, oder
wenn ich Gott wäre, wir eine so höllische Pein nicht einmal aus-
denken könnten, wie Dein lieber Gott es für jenes schuldlose, kleine
Mädchen bestimmt hatte.«

»Ohne die Macht Gottes zu besitzen,« lautete die Antwort,
»können wir keine gerechten Beurtheiler seiner Ziele und seines
Willens sein. Und wenn es Dir seltsam erscheint, dass ich Ihn preise,
wie viel seltsamer ist es doch, dass Du Ihn in Zweifel ziehen magst!
Denn selbst die Fähigkeit, Gott bezweifeln zu können, stammt
von Gott.«

»Könntest Du, was auch immer Dich heimsuchen würde, Gott
stets das gleiche Vertrauen entgegenbringen?«

»Ich hoffe. Denn ich vermag mir keine Heimsuchung vorzu-
stellen, die mir meinen Gottesglauben nehmen könnte. Ohne ihn
müsste ich sterben.«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 846, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0846.html)