Text
schmerz war vielleicht das Schlimmste, was sie bis dahin zu ertragen
gehabt. Auf einmal fieng, an einem sonnigen Morgen, ihr linker
Fuss an zu schmerzen. Es wurde schlimmer, so dass sie sich legen
musste. Wir hielten es für eine Verstauchung oder Erkältung, bis der
zweite Fuss auch anfieng zu schmerzen. Der Arzt kam und unter-
suchte die Füsse. Sie waren bleifarben und eiskalt. Dann sagte er
zu meinem freundlichen Gastgeber: »In dieser grossen Folterkammer,
Welt genannt, gibt es einen Krankheitskeim von so teuflischer Hinterlist,
dass Du Deine ganze Jugendzeit hindurch, springend und jauchzend,
die Stunden jagen kannst, bis plötzlich, vielleicht am lieblichsten Tage
Deines Lebens, ein Gefühl über Dich schleicht wie der langsame
Schnitt einer Sense durch Deine Füsse; Du wirst Dich niederlegen
wie jenes junge Mädchen; die Füsse werden kälter und kälter und —
wenn Gott barmherzig ist — wirst Du sterben; wenn nicht, so wirst
Du Dich nach Monaten vom Schmerzenslager erheben: ein neues,
unheimliches Gefühl beschleicht Dich — Gott gebe Dir Kraft! — Deine
beiden Füsse sind fort So gieng es dem armen, unglückseligen Kinde
von 18 Jahren. Das Ungeheuer hatte aus seinem Versteck unter dem
grünen Hügel hervorgelugt und — zugebissen«
Er schwieg. Sein Gesicht war bleich und erregt. Dann fuhr
er fort:
»Nun sage mir doch, meine Freundin, wo liegt hier die liebe-
volle Bedeutung?«
»Das ist furchtbar — furchtbar,« sagte sie langsam, mit tiefer
Seelenqual im Ton der Stimme; das Leuchten ihres Gesichtes schien
einen Augenblick zu flackern und dunkler zu werden, »entsetzlich
kein weiser Christ wird thöricht genug sein, diese Heimsuchung und
ihre Bedeutung erklären zu wollen. Nur so viel kann ich sagen: es
hat einen Sinn — ja, ich wage es trotzdem zu glauben, einen liebe-
vollen Sinn. Aber o ja, gewiss, es ist furchtbar.« Ihre Stimme ver-
rieth, dass sie in diesem Augenblick nicht nur an die eine Erzählung
dachte, sondern an all das gehäufte Elend des menschlichen Daseins.
Ihre Gedanken durcheilten plötzlich die blaue, strahlende Abendferne
und senkten sich hinab, weit hinter dieser träumerischen Welt in eine
andere Region, eine Region voll ungesunder Luft und engen, brütenden
Strassen, wo Männer und Frauen keine Ahnung hatten von den reinen,
sonnigen Höhen dort oben, wo sie beide sassen und in die klare
Atmosphäre hineinredeten. In den schmutzigen Häusern giengen ihre
Gedanken aus und ein und bekannte Gesichtszüge begegneten ihr, sorgen-
gebeugt und mit den Zeichen des Verbrechens auf den Stirnen. Sie
schauderte und machte unwillkürlich eine Bewegung, als müsse sie
hineilen in diese Welt ihrer Vision, als bedürfe die ihrer Fürsorge.
Wenn das kleine, einsam flackernde Licht, das da für Gott angezündet
war in jenen düstern Strassen, ausgehen sollte, während sie auf den
Höhen lächelte? Ja. Der Verehrer der Schönheit hatte schon recht:
die Welt war dunkel und sehr hässlich anzusehen — hässlicher als
man sich’s träumen liess, wenn man über diese grünen Abhänge
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 845, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0845.html)