Text
Ein Gespräch
von
RICHARD LE GALLIENNE.
Aus dem Englischen übersetzt von Wilhelm Schölermann.
(Schluss.)
»Worte! Worte! Was kann denn der »Sinn«, was kann die
Entschuldigung sein für etwas so Scheussliches wie der Tod, für all
die versteckten und grausamen Schleichwege der Krankheiten?«
»Wir stehen dem allen noch zu nah, um es erkennen zu können.
Aber es gibt eine Bedeutung dafür, ganz gewiss eine schöne Be-
deutung.«
»Du glaubst das wirklich?«
»Ja, bestimmt und ohne Furcht.«
»Eine schöne Bedeutung?«
»Ja.«
»Eine schöne Bedeutung auch bei einem Fall wie diesen?
»Vor einem Monat etwa wohnte ich im Hause eines Freundes,
auf einem der lieblichsten grünen Winkel dieser Erde. Der Frühling
stand in seiner Blüte. Wenn je die Erde eine himmlische Bedeutung
hatte, schien sie es in diesem Thale auszudrücken, von früh bis spät
in den herrlichsten Farben und Klängen. Der Himmel wölbte sich voll
strahlender Güte über dieses Thal. Wie heiter die Sonne, wie klar und
mild die Sterne! Das Erdreich selbst duftete Liebe aus, Myriaden kleiner
Hände hervorstreckend, Stengel, Blatt und Keime dicht gedrängt in
prangendem Überfluss, wie um zu zeigen, welch ein warmes Herz
darunter pochte. Man empfand das drängende junge Leben oft so
stark, dass man glauben konnte, der grüne Plan hebe sich wie der
Busen einer schlafenden Jungfrau. Vorsichtig trat man auf, um nicht
das kleinste Blatt ihres duftigen Kleides zu verletzen.
»Wärest Du dort gewesen, meine liebe Freundin, so würdest Du
wie heute ausgerufen haben: »Darf man an Gottes Güte zweifeln!« und
ich würde geantwortet haben: »Ich kann es hier nicht.«
»Aber nun höre, wie in diesem Thal der grüne Schleier der
Schönheit jäh zerrissen ward und wie uns das Gesicht des Scheusals
aus dem Hinterhalt angrinste. Im Hause war eine junge Magd, 18 Jahre
alt, frisch, lieblich und munter wie ein Vogel, unschuldig und froh
wie ein Kind, das den ersten Traum des Weibes träumt. Die Burschen
vergötterten sie. Sie hatte niemals Krankheiten gekannt und Zahn-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 844, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0844.html)