Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 867
Die menschliche Wahrheit über Bismarck (Bleibtreu, Karl)
Text
erhalten, die Benedetti aus Paris schon gehabt, und dem
Botschafter deshalb nichts weiter zu sagen habe.« Das »deshalb«
schoben wir allerdings als Interpolation ein, es fehlt zufällig im Tele-
gramm, entspricht aber genau dem gemeinten Sinn, der ein eminent
friedlicher ist. Der König nämlich wollte zwar, indigniert über die
letzte »Zumuthung« des Botschafters, dies persönliche Verletztsein
markieren und deshalb auf weitere Bestätigungen verzichten, nachdem
ja nun alles in Ordnung gebracht. Denn nachdem er die
»Bestätigung«, dass jede Throncandidatur aufgegeben sei, an Benedetti
mitgetheilt, war ja wirklich der ganze Zwist erledigt. Diese fried-
liche Lösung sollte Bismarck den Regierungen und dem beängstigten
Publicum mittheilen.
Das Prävenirespielen Bismarcks, als noch alle Trümpfe der Kriegs-
karten in seinen Händen lagen, darf man ihm zwar so wenig verübeln
wie 1756 Friedrich dem Grossen. Allein so urtheilen wir heute post
festum, mit einem Überblick, den Bismarck unmöglich haben konnte.
Wie weit die Verhandlungen Napoleons mit Österreich und Italien
reiften, wie sehr die innere Lage Frankreichs nach Krieg drängte,
wusste er so wenig, dass er einen ruhigen Sommer erwartete. Manches
mag ihm ja nicht verborgen geblieben sein, die volle Unabwendbarkeit
der drohenden Gefahr konnte er aber nicht kennen wie heute wir,
man darf ihm also nicht eine Erkenntnis unterschieben, wo ihn höchstens
sein Instinct geleitet hat. Und wenn ihm Moltke vor Redigierung der
Depesche versicherte, dass uns nach menschlicher Wahrscheinlichkeit
der Sieg gewiss sei, so darf man solche Prophezeiungen nicht ernst
nehmen. Im Kriege kommt alles anders, vor der Probe vermag niemand
den Gegner richtig einzuschätzen, einen Bazaine als Oberfeldherrn
vorauszusehen spottet der Möglichkeit. Und die noch nie ausgesprochene
Wahrheit ist, dass man obendrein die französische Armee und vor
allem das Chassepot weit unterschätzte, dass ein solcher Widerstand
schon bei Wörth allgemeines Staunen erregte und nur die Erbärm-
lichkeit der Führung jede Erwartung weit weit hinter sich liess. Hätte
ein Feldherr oder auch nur ein anständiger Charakter an der Spitze
der Rheinarmee gestanden, wäre ja ohnehin alles anders gekommen.
Wie aber erst, wenn die Süddeutschen nicht solche Bundestreue be-
währten, sich neutral verhielten? Konnte Bismarck das Gegentheil, die
grossdeutsche Haltung Baierns, Württembergs u. s. w. mit Bestimmt-
heit voraussehen? Er konnte es nicht, denn entgegen der Legende
sind wenigstens die süddeutschen Regierungen nur durch die unerwartete
Begeisterung der Mehrzahl ihrer Bevölkerung mitgerissen worden. Wie
aber würden wir wohl über Bismarcks Vomzaunbrechen des Krieges
urtheilen, wenn er unglücklich verlaufen wäre? Dasselbe höfische
Gesinde und Gesindel, das heute seiner Bahre nachlärmt und vor dem
Götzen platt auf dem Bauche liegt, hätte dann sein Kreuzige statt des
Hosiannah gebrüllt und nur die ernsten unabhängigen Geister, die
heute mit kühlbesonnener Kritik dem Bismarck-Taumel, dem masslosen
Heroenkult, gegenübertreten, wären dann muthig seine Vertheidiger
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 867, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-23_n0867.html)