Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 868

Die menschliche Wahrheit über Bismarck (Bleibtreu, Karl)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 868

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868 BLEIBTREU.

gewesen, den Beweggrund seiner Verwegenheit begreifend und ent-
schuldigend.

Natürlich lässt sich trotz alledem Bismarcks Handlung vom rein
ethischen Standpunkt aus niemals rechtfertigen. Jedoch mit Ethik und
Lavendelwasser macht man keine Weltgeschichte. Die Verlogenheit
der officiellen Legende aber besteht darin, dass man derlei Gewalt-
menschen noch gar mit einem Heiligenschein umgibt, als hätten sie
uns einen Moralcursus vorzutragen. Auf die Auslegung und auf den
Urtheilsstandpunkt dieser »Fälschung« gegenüber kommt es ja gar
nicht an; die möge sich jeder nach seinem Gewissen zurechtmachen,
wie wir eben unsere milde Ansicht betonten, die »Fälschung« als
ein ruhmvolles, in bestem Sinne »patriotisches« Verbrechen auffassten,
das man einem historischen Helden verzeihen soll. Andre empfinden
anders, halten sich nur an das Verbrechen. Aber eins muss wenigstens
unverfälscht bestehen bleiben: die Thatsache selber, mit der sich eben
jeder nach Gutdünken abfinden mag. Wenn man der Socialdemokratie
ihre Auffassung zum Vorwurf macht, wohl und gut: statt dessen,
was geschah? Man hat mit unglaublicher Sophistik, mit blindem Nicht-
sehen-Wollen, polternd von nichtswürdiger Verleumdung, schändlicher
Entstellung, perfider Verdrehung gesprochen, als habe sich die Social-
demokratie ihre Lesart des Vorgangs einfach aus den Fingern gesogen.
Das ist eine dreiste, plumpe Unwahrheit. Ob man den Begriff »Fälschung«
dafür anwenden darf, ist Geschmackssache, aber die vollständige Sinn-
Umkehrung
der Emser Depesche durch Bismarck ist eine historische
Thatsache, die durch kein Gebelfer der Legende umgestossen wird.
Die socialdemokratische Auffassung als wissentliche Verleumdung be-
zeichnen, ist selber nichts als wissentliche Verleumdung.

Bismarck hat die Behauptung aufgestellt, er habe nie gelogen,
und Disraeli soll geurtheilt haben: »Hütet euch vor dem, er meint,
was er sagt.« Allein, auch das ist Legende. Wie bezeichnend, dass
die ganze Mär von Tyras II. sich von A bis Z als erfunden heraus-
stellte! Der hohe Wahrheitssprecher hat dem bairischen Redacteur,
dem er diese beissende Bötticher-Geschichte aufband, beinahe einen Ver-
leumdungsprocess auf den Hals geschickt. Er war eben ein so durch-
aus feuilletonistischer Kopf, dass er wie Heine sich keinen Witz
verkneifen konnte, zumal wenn Rachsucht im Spiele war. Im übrigen
darf man ihn als eine sozusagen kaufmännische Natur betrachten.
Seine diplomatischen Mittel waren die eines listigen Speculanten, wenn
auch nicht eines »ehrlichen Maklers«. Bekanntlich wusste er 1867
Benedetti, indem er auf alles einzugehen schien, eine schriftliche Formu-
lirung der französischen Compensationsforderungen zu entlocken, und
sobald er die hatte, wich er jeder weiteren Verhandlung aus, blieb
taub gegen Benedettis gerechtes Ersuchen, ihm das Geheimschriftstück
zurückzustellen, unter allerlei Ausflüchten, aber publicierte es 1870 sofort,
um Frankreich zu blamieren. Nun ja, mit Patriotismus lässt sich jede
Jesuitenmoral decken, aber im Privatleben wäre das die Haltung eines
Gauners. Wir machen ihm daraus keinen Vorwurf, nur komme man

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 868, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-23_n0868.html)