Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 869

Die menschliche Wahrheit über Bismarck (Bleibtreu, Karl)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 869

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DIE MENSCHLICHE WAHRHEIT ÜBER BISMARCK. 869

nicht ewig mit der Legende von seiner Offenheit. Übrigens spielte er
österreichischen Diplomaten einen ähnlichen Streich.

Die officiöse Geschichtsfälschung, wie sie seit grauer Zeit schwung-
haft betrieben ward, begreift eben recht gut ihre Aufgabe, den Gewalt-
habern und Gewaltthaten vor allen Dingen ein ethisches Mäntelchen
umzuhängen. Denn die Welt will betrogen sein, sie gehört der Lüge.
Deshalb passt es keineswegs in den Legendenkram, die Herren- und
Übermenschen in ihrer wahren Gestalt als Vertreter des Herrenrechts
zu preisen, sondern das ganze Bevormundungssystem verlangt, dass die
dumme Menge im Wahn erhalten bleibe, alle »heroischen« »patrio-
tischen« Thaten seien aus reinster Moral geflossen. Denn wenn man
von Gottes Gnaden wirtschaftet, so darf man es selbstverständlich nicht
von Teufels Gnaden und muss also stets hübsch im Bereich des christ-
lichen Moralcodex bleiben, soweit dies möglich scheint. Deshalb die
Wuth, wenn man die makellosen Helden und Heiligen trocken durch
die Loupe betrachtet, um dabei recht oft den Kopf schütteln zu müssen.
Bismarck muss daher nicht nur der schlechtweg »grösste« Deutsche,
sondern auch der »beste« gewesen sein, als habe dieser Edelste der
Nation sein ganzes Leben als entsagungstreuer Märtyrer »seinem«
Volke geopfert!! Der Arme, wenn man ihm so was zugemuthet hätte,
ohne Kibitzeier, Champagner und Schnaps, ohne Titel, Dotationen und
Coupons bei Bleichröder! Es widersteht einem Sauberfühlenden, diesen
Legendenunrath näher zu beleuchten, aber die Heuchelei wirkt zu an-
widernd, als dass man schweigen könnte. Ein Irrthum wäre es freilich,
wenn man wähnen wollte, die Leute wären sich ihrer Heuchelei bewusst
oder die »Staatsmänner« ahnten, dass ihre Ideale keineswegs mit der
Ethik in Einklang stehen. Zwischen der alten Weltanschauung, die
mit phantastischen Zuthaten die Logik der Dinge entstellt, und der
neuen, die nüchtern mit unerbittlicher Wahrheitsliebe den Dingen auf
den Grund geht, klafft eben eine unüberbrückbare Kluft. Für jene ver-
schwindet der Begriff des »Vaterlands« im Nebel ihrer naiven Unreife
derart, dass sie sich ein Vaterland ohne einen König oder politischen
Helden gar nicht mehr vorstellen können. Und wenn sie sich über den
reinen Personencult aufschwingen, dann schiebt sich der »Staat« dafür
ein, wohlgemerkt grundsätzlich ein monarchischer und jedenfalls
immer ein Kastenstaat: in der heutigen französischen Republik wird
so die Armee zum »Staat« und Patriotismus gleich »Vive l’année!«
Auf diesem Wege wird also »Vaterland« gleich »König«, »Nation«
gleich »Staat«. Dass »Nation« doch einfach »Volk« bedeutet, daher
Dinge wie Nationalehre, Nationalgefühl, Nationalstaat lediglich vom
Volke selber ihr Gepräge erhalten können, haben sie längst vergessen.
Der Staat ist aber etwas willkürlich und gewaltsam Entstandenes, das
Volk allein das Ursprüngliche, die Grundursache aller Staatsgebilde,
»Nationalstaat«, welch ein Widerspruch zum eigentlichen Nationsbegriff,
wenn hierbei wie Irländer in England, Italiener in Frankreich (Nizza),
Polen und andere unterworfene Völkerschaften in Russland, oder Polen.
Franzosen und Dänen im Deutschen Reich, wildfremde Bestandteile

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 869, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-23_n0869.html)