Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 870

Die menschliche Wahrheit über Bismarck (Bleibtreu, Karl)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 870

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870 BLEIBTREU.

in den gleichen eisernen Reifen gepresst werden! In Österreich gibt
es daher wohl ungarischen, böhmischen, polnischen, deutschen Stammes-
patriotismus, aber keinen allgemeinen k. k. Patriotismus für Österreich,
sondern höchstens für das angestammte Herrscherhaus. Was ist also
die »Nation«? Nur das Volk selbst, nicht der »Staat«. Was ist der
Staat? Die Regierungen und herrschenden Kasten. Woher kamen
letztere, da sie doch nicht aus dem Mond herabfielen, wie ent-
standen sie? Natürlich aus dem Volke. Da diese Logik aber unlieb-
same Schlussfolgerungen nahelegt, so wandten die Staatsvertreter
sich an die Kirche und erhielten von ihr den feierlichen Segen,
dass der Staat ein Ding an sich und ein König bloss von Gottes
Gnaden da sei, womit dann natürlich alle Discussion abgeschlossen ist.
Das »Volk« ist den Staatsvertretern eine gleichgiltige Herde, die
unentwegt nach Gottes Ordnung Vorspanndienste zu leisten hat, ohne
jede andere Existenzberechtigung, während der sogenannte »Staat«
mystisch aus eigenen Gnaden regiert. Dieses ist nämlich die berühmte
sittliche Weltordnung in der besten aller Welten. Da nun die mündig
gewordene moderne Menschheit über solche Umkehrung aller Logik
zu lachen anfieng, escamotierte man eiligst andere Stichworte in die
alte Tragikomödie hinein bei unveränderter Rollenvertheilung. Früher
hiess der Rebell, der nicht als frommes Schaf der selbsternannten
Obrigkeit folgte, sozusagen Gottesleugner, jetzt ist er ein vaterlandsloser
Geselle. Denn natürlich genügt es nicht, sein wirkliches Vaterland,
sein Volk zu lieben, vielmehr liegt hierin schon sträfliche Verirrung.
Sondern der patentierte, geaichte »Patriotismus« — man braucht hier
am besten das Fremdwort, da ja synonyme Worte wie »Byzantismus,
Chauvinismus« so nahe liegen — beruht ausschliesslich in unterthäniger
Anbetung der Staatsvertreter und »nationalen« Helden, die den »Staat«
äusserlich gross machten, das »Volk« in diesem Nationalstaat aber als
unterworfene Völkerschaft behandelten. In diesem Sinne ist Bismarck
freilich der grösste »nationale« Held gewesen.

Man pflegt nun wohl zu sagen, dass kritische Verkleinerung alles
Ungewöhnlichen ein Merkmal unserer Zeit sei, deren Nivellierungsstreben
besonders in Deutschland durch die uralte deutsche Neid- und Nörgel-
sucht verstärkt wird. Allerdings ist Neid der Schatten, den jede Grösse
wirft, und Kleinhacken ist noch kein Zimmern, kritische Zersetzung
fördert an sich nichts Positives. Aber steht es denn wirklich so, ist
der Neid wirklich immer eine schädliche Eigenschaft der Menschen-
natur? Zuvörderst macht der Neid des grossen Haufens stets vor
einer Schranke halt: vor dem äusseren Erfolg. Dieser wirkt auf
niedrige Naturen so überwältigend, dass sie sich ehrfürchtig beugen
wie vor einem Gottesgericht. Die Macht hat immer recht, man mag
sie heimlich beneiden, aussen duckt man sich vor ihr. Auch steht dem
Neidtrieb in der Menschennatur fast ebenso stark eine gewisse lärmende
Neigung zum Bewundern entgegen. Der Mensch formt sich gerne
Götzen, an die er glauben kann, und die von Carlyle empfohlene
»Heroenverehrung« bedeutet im Grunde nur eine Fortsetzung des

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 870, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-23_n0870.html)