Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 871

Die menschliche Wahrheit über Bismarck (Bleibtreu, Karl)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 871

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DIE MENSCHLICHE WAHRHEIT ÜBER BISMARCK. 871

Fetisch-Dienstes. Der Mensch schafft sich ein Idol, vor dem er kniet,
in dessen Zügen er sich selbst vergrössert wiedererkennt. So darf denn
der Bewunderungscult, der mit dem grand old man in Friedrichsruh
getrieben wurde, nicht Wunder nehmen, nicht — wie geschah — als
Beweis für die unwiderstehliche Wirkung seiner Erscheinung aufgefasst
werden. Etwas wollte der neudeutsche Chauvinismus zum Bewundern
haben, eine Person musste er sich als Symbol-Fetisch aufstellen, und
da kam diese Collossalgestalt gerade recht. Es wäre also unbillig,
die Bismarck-Verhimmelungssucht ohne weiteres als Verrücktheit und
Heuchelei auszugeben: für unreife Leute, die nichts als die äussere
»That« begreifen und kein höheres Ideal kennen als einen über-
schwänglichen »Patriotismus«, muss der äussere Reichsgründer noth-
wendig den Gipfel aller Grösse bezeichnen. Aber ebensowenig wäre
der »Neid« der Gegner, wenn wir uns einmal diesen Neid-Begriff zu
eigen machen, irgendwie zu verdammen. Der Neid ist ohnehin eine
natürliche, deshalb berechtigte Empfindung als Rückschlag gegen un-
gebürliche Bevorzugung eines Individuums auf Kosten des andern. Denn
selbst in dem Falle, wo die Natur selbst eine Ungleichheit erzeugte
und den einen thatsächlich mit außerordentlichen Geisteskräften aus-
stattete, wird der andere nicht dem von Natur Bevorzugten das Recht
zuerkennen, sich deshalb über alle andern gewaltsam zu erheben und
zu brüsten. Dieser demokratische Neid wäre also an sich ein gar nicht
unpassendes Gefühl. Nun wird aber in Wahrheit die Geistesgrösse
selber nicht beneidet, sondern nur ihre äussere Geltung, und da trifft
es sich denn fast immer, dass der »Neid« diese Geltung als irrig
empfindet, oft sogar dem Groll beleidigter Gerechtigkeit gleicht. Denn
in den allermeisten Fällen wird gerade die wahre Grösse bei Lebzeiten
verkannt, weil es ihr an der rohen Willensgier und listigen Berechnung
mangelt, die allein in der Welt sich durchsetzen. Unzähligemale ist
der Verhimmelte mehr oder minder ein Charlatan, der Unkundigen
übertriebene Meinung von seiner Bedeutung einflösste. Denn die Welt
wird nicht nur betrogen, sondern sie will betrogen sein. Deshalb
bleibt jeder äussere grosse Erfolg verdächtig und blüht er ja auch im
vollen Sinne nicht den eigentlichen Geistesgrössen, sondern nur den
Männern der That. Diese aber hängen mit Haut und Haar vom
Glücke ab, das bekanntlich eine feile und blinde Dirne ist. Deshalb
hiess es triftig: »Cäsar und sein Glück«. Da nun das Glück auch
solche begünstigt, die es wenig verdienen, das Grosswerden selber
aber durch widrige Umstände unmöglich wird, so hat die social-
demokratische Weltanschauung vollkommen recht, jeden Heroencultus
zu verpönen. Denn jeder Heros verdankt die Hauptsache seinem Milieu,
d. h. der indirecten Mitwirkung seiner Zeitgenossen und sie alle haben
theil an seiner angeblich eigenen Grösse. Hat Bismarck, der republi-
kanische »Monarchist« und royalistische »Republikaner« (Buschs Ent-
hüllungen), dessen ganze Lebensstellung also in heuchlerischer Unklar-
heit wurzelte, mehr für das Glück gethan als das Glück für ihn?


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 871, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-23_n0871.html)