Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 931
Text
liche Dorf sich zur Stadt entwickeln. Das Gelingen der ersten Sied-
lungsgenossenschaft reizt zur Nachahmung; hunderte von Siedlungs-
genossenschaften spriessen allerorten auf. Die Nachfrage nach Land-
arbeitern steigt enorm; die Grundrente sinkt. Schliesslich sind die
Gutsbesitzer aus Gründen der Selbsterhaltung gezwungen, ihre eigenen
Güter in genossenschaftliche Siedlungen umzuwandeln. Inzwischen ist
der Zufluss ungelernter Arbeiter nach den Städten gänzlich versiegt;
im Gegentheil, zahlreiche Industriearbeiter strömen nach den Sied-
lungen ab. Die industrielle Reservearmee ist verschwunden, und damit
sind im Industrieleben die Rollen vertauscht; es laufen nicht mehr
jedesmal zwei Arbeiter einem Meister nach, sondern umgekehrt, zwei
Meister einem Arbeiter. Folglich muss auch in der Industrie die
Gewinnvertheilung eine productivgenossenschaftliche werden. Die Aus-
beutung ist verschwunden, das Wirtschaftsleben ist gesundet. Und als
Correlat dieser freien Wirtschaft ersteht die freieste Form des politi-
schen Lebens: die reine Demokratie.
Soweit der Verfasser. Dass die bisher so wenig gewürdigten,
landwirtschaftlichen Genossenschaften zu glänzenden Erfolgen und zu
weittragender, socialer Wirksamkeit berufen sind, daran ist kein
Zweifel. Und ebenso zweifellos ist die Überlegenheit des Nutzungs-
rechtes über das römisch-rechtliche Eigenthum an Grund und Boden.
— Die Theorie des Genossenschaftswesens hat durch Oppenheimers
»Siedlungsgenossenschaft« eine wertvolle Bereicherung erfahren. Eine
noch wertvollere Bereicherung aber erfährt die allgemeine Theorie des
Socialismus durch den klaren, unwiderleglichen Nachweis des causalen
Zusammenhanges zwischen ländlicher und städtischer Arbeiterfrage,
zwischen Grossgrundeigenthum und industrieller Reservearmee.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 931, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-24_n0931.html)