Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 930
Text
sei gegründet. Da sie das Territorium eines bisherigen Rittergutes ein-
nimmt, so stellt sie juristisch einen Gutsbezirk dar und geniesst all die
weitgehende politische Autonomie, die das preussische Landrecht einem
solchen einräumt. Da sie — innerhalb gewisser Grenzen — ihren
Betrieb umso intensiver und gewinnreicher gestalten kann, über je
mehr Arbeiter sie verfügt, so wird sie sich in ihrem eigenen Interesse
offen halten, also eitler sehr beträchtlichen (wie der Autor meint,
»praktisch unbegrenzten«) Zahl von Einwanderern Zutritt gewähren.
Es bleibt auch nicht bei einer ausschliesslich ackerbauenden Be-
völkerung; der erste Handwerker siedelt sich an, vielleicht ein Schmied.
Die Genossenschaft verpachtet ihm eine entsprechend kleinere Parcelle
und streckt ihm das Capital zum Bau eines Wohnhauses und einer
Werkstätte zinslos vor. Für diesen Handwerker ist die Genossenschaft
nicht mehr das geschäftliche Unternehmen, zu dessen Teilhabern er
zählt, sondern die politische Gemeinde, der er als Bürger angehört.
Damit hat sich — nach der Terminologie unseres Autors — die land-
wirtschaftliche Arbeiter-Productivgenossenschaft zur höchsten Form der
Genossenschaft, zur Siedlungsgenossenschaft entwickelt. Wie nun aber,
wenn der innere Markt sich erweitert, wenn für einen zweiten, dritten
Schmied Arbeit vorhanden ist? Wird dann nicht der erstangesiedelte
Schmied seinem nachrückenden Collegen als ausbeutender Unternehmer
gegenübertreten? Oppenheimer erklärt dies für unmöglich. Denn einer-
seits stehe es jedem Zuwanderer frei, bei der Centrale als arbeitendes
Mitglied einzutreten. Diese Centrale aber sei eine echte Productiv-
genossenschaft; was diese ihren Mitgliedern biete, müsse der »Unter-
nehmer« seinen »Arbeitern« auch bieten, folglich sei von Ausbeutung
keine Rede. Andererseits stehe, solange eine Nachfrage nach dem
betreffenden Arbeitsproduct vorhanden ist, der zinslose Credit der
Siedlungsgenossenschaft jedem zur Verfügung; der »Gehilfe«, dem
sein »Meister« einen gerechten Antheil am Gewinn verweigere, könne
alsbald selbst Meister werden. Folglich müsse jedes gewerbliche Unter-
nehmen innerhalb der Siedlung thatsächlich eine Productivgenossenschaft
sein, selbst wenn es die äussere Form des Unternehmergeschäftes zur
Schau trage. Gewiss eine sehr sinnreiche Construction; einfacher,
sicherer und anständiger dürfte es aber denn doch sein, wenn die
Siedlung ihren Boden und ihren Credit grundsätzlich nur entweder
einzelnen Handwerkern oder aber echten Productivgenossenschaften zur
Verfügung stellt, solchen Handwerkern aber, die ihre Mitarbeiter mit
einem fixen Lohn abfinden, Credit und Kundschaft sofort entzieht.
Der Verfasser bringt sehr triftige Gründe für die Ansicht vor,
dass das moralische und intellectuelle Niveau der in eine solche Oase
ausbeutungsfreier Wirtschaft aufgenommenen Arbeiter sich in kurzer
Zeit gewaltig heben, die Productivität ihrer Arbeit eine maximale sein
wird. Er nimmt mit Recht an, dass der Siedlung von den benachbarten
Rittergütern soviel Arbeitskräfte zuströmen werden, als sie nur irgend
aufzunehmen vermag. So sieht er im Geiste schon die künftige
Siedlung die Bevölkerungsdichte Belgiens erreichen, sieht das anfäng-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 930, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-24_n0930.html)