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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 934

Text

TRISTAN-NOTIZEN.*)
Von Dr. MAX GRAF (Wien).

Richard Wagner schrieb »Tristan und Isolde«, als er mitten
in der Arbeit am »Ring des Nibelungen« ruhend, ein Werk schaffen
wollte, welches nur auf einen Opernabend beschränkt, leicht den Zu-
gang zu den Opernbühnen finden sollte. Vielleicht erklärt sich gerade
hieraus die Concentration, Einfachheit und Straffheit im Baue dieses
Werkes. Ich weiss, ich kann mich in dieser Meinung mit dem
normalen Theaterbesucher nicht verständigen. Er findet den »Tristan«
zu lang, wie er überhaupt die grösseren Werke Wagners zu lang
findet. Nur meine ich, täuscht er sich selbst über seine Empfin-
dungen. Man hat an den Wagner’schen Werken amputiert, ver-
stümmelt, abgeschnitten, was man nur konnte, und je mehr man
strich, desto weniger verschwand das Gefühl: die Werke sind zu
lang. So wurde es immer klarer, dass das Gefühl den Theaterbesucher
getäuscht hatte. Es bedeutete etwas anderes. Es war das Lautwerden
einer inneren Unredlichkeit, eines schlechten Gewissens, welches ihm
bange machte. Es war eine dunkle Stimme der Impotenz, sich jener
Welt in seinen Empfindungen zu nähern, nachdem alles Verhöhnen
und Bespötteln die Wagner’sche Welt von den Bühnen nicht fern-
gehalten hatten, und man es seiner sogenannten Cultur und Bildung
schuldig war, sich mit den Werken abzufinden. Man schämte sich
gewissermassen, trotz allen guten Willens, jenen Werken mit einer
vollkommenen Leerheit und Interesselosigkeit gegenüberzustehen und
suchte nach einer Ausrede. Und wo Herz, Auge und Ohr nichts
empfanden, todt und leer blieben, da empfand ein anderer, weniger
edler Körpertheil: zu lang! — — — Es war, wie sich bei den in
usum podicis hergerichteten Aufführungen Wagner’schen Dramen in
den Operntheatern zeigte, nichts als eine Ausrede, ein Sich-selbst-
Täuschen, ein innerer Schwindel. Der normale Theaterbesucher wollte
sich eben nicht gestehen, dass er der Wagner’schen Kunstwelt fremd
gegenüberstand, als eine Organisation von anderen Lebensgesetzen,
anderem Blute, anderen Nerven, anderem Herzen; Kind eines anderen
Planeten, einer anderen Welt

Nach dem »Rienzi«, welcher zwei Opernabende füllte, schrieb
Wagner den »Fliegenden Holländer« mit einer beabsichtigten engsten
Begrenzung und energischesten Zusammenfassung: während der Arbeit
an seinem Vierabendwerke, dem Nibelungenringe, den »Tristan« mit


*) Zur bevorstehenden ungekürzten Aufführung von Richard Wagners
»Tristan und Isolde« im Wiener Hof-Operntheater.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 934, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-24_n0934.html)