Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 922

Oppenheimers »Siedlungsgenossenschaft« (Gumplowicz, Dr. Ladislas)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 922

Text

OPPENHEIMERS »SIEDLUNGSGENOSSENSCHAFT«.*)
Von Dr. LADISLAS GUMPLOWICZ (London). I.

Das Buch, über das ich berichten will, ist nunmehr zwei Jahre
alt. Aber es ist noch lange nicht genug darüber geschrieben worden.

Der Verfasser geht ungefähr von folgender Voraussetzung aus:
Was auch einsichtigen Männern innerhalb der bürgerlichen Parteien,
und gerade diesen, den Anschluss an die Socialdemokratie erschwert,
ist keineswegs, dass die Socialdemokratie die sociale Frage für lösbar
hält und lösen will, sondern dass sie diese Frage lösen will durch ein
offenbar unzweckmässiges, ja unmögliches Mittel: den Communismus.
Soweit aber innerhalb der im weitesten Sinne »bürgerlichen«, d. h.
nichtcommunistischen Parteien ernsthafte, socialreformatorische Be-
strebungen vorhanden sind, gipfeln sie sämmtlich in der Empfehlung
und Anwendung der Grundform freiheitlich-socialistischer Organisation,
der Genossenschaft. Sind nun Genossenschaften vorhanden oder möglich,
welche befähigt sind, die socialen Misstände zum Verschwinden zu
bringen? Wenn ja, dann kann aus den Anläufen und Ansätzen bürger-
licher Socialreform ein genossenschaftlicher Socialismus erwachsen, der
den Communismus (nach neuerem Sprachgebrauch: Collectivismus)
siegreich aus dem Felde schlägt; wenn aber nicht, so ist doch wohl
das »aussichtslose Experiment mit dem Communismus« unvermeidlich.

Der Verfasser macht sich seine Aufgabe wahrlich nicht leicht. Er
unterwirft die mannigfachen Formen bisher bestehender Genossenschaften
einer detaillierten und ausserordentlich strengen Prüfung. Zwar gibt er von
vornherein zu: »Zwei Generationen genossenschaftlicher Arbeit liegen
hinter uns. In dieser Zeit hat das Genossenschaftswesen in einer Ausdehnung
an Boden gewonnen, wie es kaum jemand zu hoffen gewagt hätte; es
ist eine neue Art wirtschaftlicher Organismen entstanden von erstaun-
licher Gesundheit, Macht und Grösse. Die einzelnen Glieder dieser
Organismen sind in tausenden und hunderttausenden von Fällen wirt-
schaftlich und sittlich gestützt und gehoben worden. Und wie die
Privatwirtschaft der einzelnen Genossen, so hat auch die National-
wirtschaft der ganzen Völker die Vortheile dieser Bildungen
empfunden
, die in weiten Grenzen die Aufgabe gelöst haben, die


*) Die Siedlungsgenossenschaft. Versuch einer positiven Überwindung
des Communismus durch Lösung des Genossenschaftsproblems und der Agrar-
frage. Von Dr. Franz Oppenheimer. Leipzig, Verlag von Duncker und Humblot.
1896. 638 Seiten.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 922, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-24_n0922.html)