Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 923

Oppenheimers »Siedlungsgenossenschaft« (Gumplowicz, Dr. Ladislas)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 923

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OPPENHEIMERS »SIEDLUNGSGENOSSENSCHAFT«. 923

productive Arbeit zu vermehren und zu befruchten und die »unpro-
ductive Arbeit« — namentlich Zwischenhandel und Kleinbanquier —
zu beschränken. Es ist also durchaus begreiflich, sogar berechtigt,
wenn die Gründer und Führer der heutigen Genossenschaften mit
Stolz auf ihr Werk sehen. Nur ein Narr kann ihre Erfolge leugnen.«
(S. 12). Aber dieses bedeutsame Zugeständnis wird sofort wieder ein-
geschränkt, ja scheinbar aufgehoben durch die Behauptung, die Wirk-
samkeit auch der erfolgreichsten Genossenschaften habe sich bisher
nur auf Bruchtheile des arbeitenden Volkes erstreckt, folglich sei sie
nur eine »privatwirtschaftliche«, dagegen volkswirtschaftlich belanglos
— eine sehr unzureichend begründete These, zu welcher den geist-
reichen Autor seine Lust an eleganter antithetischer Zuspitzung ver-
führt hat.

Die Reihe des Durchgehecheltwerdens kommt zunächst an die
Consumvereine. Der Verfasser ist unparteiisch genug, ein wahrheits-
getreues fesselndes Bild von dem imposanten Aufschwung zu geben, den die
englischen Arbeiter-Consumvereine seit 1844 genommen haben. Damals
eröffneten die »Pionniere von Rochdale«, achtundzwanzig blutarme
Flanellweber, ihren Consumladen »mit einem zusammengehungerten
Capital von 28 Pfund unter dem Hohn und Hass der Einwohner
des Städtchens.« Von Rochdale aus verbreitete sich das einzig richtige,
genossenschaftliche Organisationsprincip für Consumvereine: Verkauf zu
den üblichen Marktpreisen (oder um ein Geringes billiger), Rückver-
gütung der Überschüsse an die Käufer nach Massgabe ihrer Einkäufe;
und mit dem richtigen Princip stellte sich auch überall der Erfolg ein.
1890 gab es in Grossbritannien schon 1389 Consumvereine mit
961.000 Mitgliedern, einem jährlichen Umsatz von 521 Millionen Mark
und einem Gewinn von fast 70 Millionen Mark.*) »Und all’ diese
Riesenorganisationen,« citiert Oppenheimer aus dem Buch von Adele
Gerhard,**) sind geschaffen, all’ diese Beamte sind angestellt von
Gesellschaften, deren Mitglieder in ihrer grossen Mehrzahl von der
Einkommensteuer befreit sind, weil ihr Einkommen die gesetzliche
Minimalgrenze nicht erreicht!« Aber Oppenheimer ist unbarmherzig.
Mittels einer Reihe sehr klangvoller, aber nicht sonderlich beweis-
kräftiger Lassalle-Citate sucht er den volkswirtschaftlichen Wert der
Consumvereine zu bestreiten; ferner versucht er mit Hilfe einiger recht
voreiliger und flüchtiger Schlusse eine bleibende »locale Begrenzung«
der Consumvereine nachzuweisen; endlich will er ihnen daraus einen
Strick drehen, dass das Optimum ihres Gedeihens weder im dritten
noch im fünften Stande zu finden ist, sondern eben im vierten


*) Der gedruckte Bericht, welcher dem Genossenschaftscongress zu
Peterborough (Pfingsten 1898) vorgelegt wurde, verzeichnet (pro 1897) 1469 britische
Consumvereine mit 1,465.664 Mitgliedern; der Umsatz, auf Mark umgerechnet,
betrug rund 800 Millionen, der Gewinn rund 120 Millionen. Der Verband eng-
lischer Consumvereine (English Wholesale Society) hat fünf Schiffe auf See.

**) Adele Gerhard, Consumgenossenschaft und Socialdemokratie. Nürn-
berg 1895.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 923, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-24_n0923.html)