Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 924

Oppenheimers »Siedlungsgenossenschaft« (Gumplowicz, Dr. Ladislas)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 924

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924 GUMPLOWICZ.

Stande, dem der regelmässig beschäftigten Lohnarbeiter. Der berech-
tigte Kern all dieser Negationen ist offenbar der, dass das fortdauernde
Zuströmen unorganisierter Elemente, zumal vom Lande her, die Arbeit
der Consumvereine, wie noch mehr der Gewerkschaften, theilweise und
zeitweise zu einer Sisyphusarbeit zu machen droht.

Die industriellen Productivgenossenschaften, mit denen er sich
sehr eingehend befasst, kritisiert Oppenheimer in Grund und Boden, er
vernichtet, er zermalmt sie förmlich. Bewiesen hat er aber meines
Erachtens nur, dass die industriellen Productivgenossenschaften reform-
bedürftig, nicht aber, dass sie gänzlich aussichtslos sind. Insbesondere
ist die so vielverheissende Möglichkeit der Angliederung von Productiv-
genossenschaften an einen grossen Consumverein, der das Capital vor-
streckt und den Absatz sicherstellt, zwar gestreift, aber lange nicht
erschöpfend genug behandelt.

Die so ungemein wichtigen bäuerlichen Genossenschaften, deren
Erfolge, speciell im Südwesten Deutschlands, in keiner Weise zu
leugnen sind, thut der Verfasser ziemlich kurz mit dem Hinweis ab,
dass sie ja nicht Proletarier, sondern selbständige Bauern zu Mitgliedern
haben, also »Unternehmergenossenschaften« seien. Eine sehr ungenügende
Formel; denn im wesentlichen ist der Bauer, zumal der Kleinbauer,
nicht ein fremden Fleiss ausbeutender »Unternehmer«, sondern ein
freier, d. h. im Besitz seiner Productionsmittel befindlicher Arbeiter.
Und die Verhütung der Proletarisierung freier Arbeiter kann
unter Umständen eine ebenso bedeutsame sociale Aufgabe darstellen
als die Befreiung, resp. Kräftigung und Wehrhaftmachung der schon
Proletarisierten, d. h. wirtschaftlich Versclavten.

All diese Genossenschaftsformen aber gliedert Oppenheimer —
und hier beginnt sein selbständiges schöpferisches, wissenschaftliches
Verdienst — in zwei Hauptclassen, deren Wesensverschiedenheit er
in ebenso scharfsinniger wie eindringlicher Weise darlegt; Käufer-
genossenschaften
und Verkäufergenossenschaften. Das Inter-
esse des einzelnen Käufers ist mit dem Interesse aller anderen Käufer
derselben Ware solidarisch; darum zeigen sich Käufergenossenschaften
(Typus: Consumverein) regelmässig von socialem Geiste beseelt und
gedeihen. Das Interesse des einzelnen Verkäufers (innerhalb der heutigen
capitalistischen Wirtschaft) ist dagegen dem Interesse aller andern
Verkäufer derselben Ware feindlich; darum werden Verkäufergenossen-
schaften (Typus: die isolierte industrielle Productivgenossenschaft) so
häufig von antisocialen Trieben beherrscht und verkümmern oder ent-
arten. Diese Unterscheidung ist grundlegend für das ganze System
unseres Autors.

II.

Oppenheimer vertritt die Anschauung: Mögen auch die Consum-
vereine noch so viel für den Arbeiter als Consumenten leisten,
wesentlich und vor allem drücke doch den Arbeiter als Producenten
der Schuh, und als Producenten müsse ihm vor allem geholfen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 924, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-24_n0924.html)