Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 925

Oppenheimers »Siedlungsgenossenschaft« (Gumplowicz, Dr. Ladislas)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 925

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OPPENHEIMERS »SIEDLUNGSGENOSSENSCHAFT« 925

werden. Folglich müsse eine Form der Productivgenossenschaft ge-
funden werden, welche die üblen Eigenschaften der capitalistischen
Verkäufergenossenschaft nicht an sich trägt. Dies kann nur eine Ver-
einigung solcher Producenten sein, welche ihre meisten und dringendsten
Lebensbedürfnisse mit ihren eigenen Producten zu befriedigen ver-
mögen, die also nur mit ihrem Comfort, nicht mit ihrer Existenz
von dem Marktpreis ihrer Waren abhängen. Auf solche Art gelangt
Oppenheimer zu der These: Den Ausgangspunkt der Productiv-
genossenschaft der Zukunft muss die landwirtschaftliche
Arbeiter
-Productivgenossenschaft bilden.

Es folgt eine historisch-kritische Untersuchung der Agrarverhält-
nisse, insbesondere der preussischen. Auf das Adjectiv »preussisch« ist
ein starker Ton zu legen, wenn man Oppenheimer recht verstehen
und würdigen will. Seine Heimat, das ostelbische Preussen, steht ihm
beständig vor Augen; deshalb können seine Resultate auf Bauernländer,
wie die Schweiz oder Baden, auch nur mit tiefeinschneidenden Modi-
fikationen angewandt werden. Umso brauchbarer sind sie für solche
Länder, wo, wie in Ostelbien, der Grossgrundbesitz vorherrscht und
wo die Mehrzahl der Landbevölkerung aus besitzlosen oder so gut wie
besitzlosen Proletariern besteht, die im Taglohn auf Rittergütern
schanzen. Indessen, das ist ja gerade in unserem lieben Österreich in
hohem Grade der Fall, siehe z. B. Königreich Schwarzenberg; und
wie in Ostelbien, so sind auch in Österreich mit der wirtschaft-
lichen Machtstellung einer winzigen Zahl von Grossgrundbesitzern die
allerdrückendsten politischen Privilegien verbunden. Folglich könnten
gerade für Österreich Oppenheimer’s Lehren von der allergrössten
Bedeutung werden.

Unter Berufung auf Autoren wie Sering und von der Goltz be-
kämpft Oppenheimer das eingewurzelte, auch unter Socialisten ver-
breitete Vorurtheil, als ob der gutsherrliche Landwirtschaftsbetrieb dem
bäuerlichen technisch überlegen sei, wie der Fabriksbetrieb dem
Handwerk. Das Gegentheil ist der Fall; die selbstwirtschaftende
Bauernfamilie leistet, vom Eigeninteresse befeuert, eine qualitativ
wertvolle, umsichtig individualisierende Arbeit, wie sie der Gutsherr
niemals von theilnahmslosen Mietlingen kaufen kann. Andererseits
vermag der Kleinbauer einen bescheidenen Bestand an Vieh und Ge-
flügel nahezu kostenlos aus den Abfällen seiner Haushaltung zu er-
nähren — Abfälle, deren Quantum keineswegs proportional zur Anzahl
der zum Gut gehörigen Hektare wächst. Die Maschinen aber spielen
in der Landwirtschaft beiweitem nicht jene dominierende Rolle wie in
der Industrie. Endlich verlangt die Überschwemmung des Marktes mit
billigem ausländischen Getreide gebieterisch den Übergang zur inten-
siven Wirtschaft; die Intensivierung des Betriebs führt aber in der
Landwirtschaft unvermeidlich zur Decentralisation, d. h. zu einer mehr
oder minder demokratischen Arbeitsverfassung, ist also unverträglich
mit der Despotie eines adelsstolzen Gutsherrn und der Rechtlosigkeit
seiner hörigen Ackersclaven. In der That bedeutet denn auch, wie sich

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 925, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-24_n0925.html)