Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 926

Oppenheimers »Siedlungsgenossenschaft« (Gumplowicz, Dr. Ladislas)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 926

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926 GUMPLOWICZ.

historisch nachweisen lässt, *) die »Legung« von Bauerndörfern durch
Feudalherren nicht einen technischen Fortschritt, wie etwa jener vom
Handwebstuhl zum Dampfwebstuhl, sondern im Gegentheil eine Serie
von Rückschritten: Rückgang der Bevölkerungszahl, Rückgang der
Productivität, Rückverwandlung von Ackerland in Weideland, weitere
Rückverwandlung von Weideland in Jagdrevier — also partieller Rück-
gang der Cultur von der Ackerbaustufe auf die niedrigere Nomaden-
stufe, ja von der Nomadenstufe auf die niederste von allen, die ata-
vistische Jägerstufe. Der Grossgrundeigenthümer verdankt seinen
Reichthum nur dem Umfang seines Besitzes. »Der Majoratsherr hat
nicht Überschüsse, weil er von der Bodeneinheit höhere Rein-
erträge zieht, sondern weil er von vielen Bodeneinheiten Reinerträge
zieht.« Demgemäss verdankt auch das Grossgrundeigentum in Preussen
wie anderswo sein Übergewicht keineswegs seinem Obsiegen in einem
mit rein wirtschaftlichen Mitteln geführten Wettkampf, sondern viel-
mehr einem ganzen System fortgesetzter, auf die politische Macht
gestützter Vergewaltigungen — von der kriegerischen Unterjochung
der wendischen Bauern durch sächsische Eroberer im 10. Jahrhundert
bis zur gewaltsamen Herabdrückung der freien deutschen Ansiedler auf
die Rechtsstufe der unfreien Wenden im 15. Jahrhundert**) und bis
auf die Gegenwart.

Diese nicht durch die wirtschaftlichen Entwicklungsgesetze be-
dingte, sondern durch politische Übermacht erzwungene Ausbreitung
der Latifundien, welche Massen von Bauern von ihrer heimatlichen
Scholle verjagt und auch die als Feldarbeiter Zurückgebliebenen durch
eine materiell ungünstige, social unerträgliche Lage zur Fortwanderung
drängt, ist nun die eigentliche Quelle der industriellen Reserve-
armee
und somit des städtischen Arbeiterelends. Anderer-
seits kann keine industrielle Bevölkerung durch sich allein bestehen,
sondern ist angewiesen auf den Austausch ihres Productenüberschusses
gegen den Überschuss der lebenerhaltenden landwirtschaftlichen Ur-
producte. Folglich bedeutet das Einströmen ländlicher Proletarier in
die Städte und Industriecentren zugleich eine Vermehrung der indu-
striellen Production und eine Verkleinerung des Marktes für Industrie-
producte — also Krisen und immer wieder Krisen. Allerdings wird
diese Consequenz nicht sofort fühlbar, denn dieselben unerträglichen
Zustände, welche Millionen europäischer Ackerbauer in die Städte ge-
trieben haben und noch treiben, treiben andere Millionen übers Meer
nach den unermesslichen Ackerbaugebieten des westlichen Nordamerika,
Argentiniens u. s. w., von wo aus sie Massen billigen Getreides auf
die europäischen Märkte werfen, um dafür europäische Industrieproducte
einzutauschen. Aber dieses Compensationsstadium dauert nicht lange;
denn sobald jene Colonialgebiete etwas dichter besiedelt sind, entwickeln


*) Vergleiche Marx’ Kapital, I. Bd., S. 682 ff.

**) Vergleiche das neue Werk von Oppenheimer: Grossgrundeigenthum
und sociale Frage. Vita, Deutsches Verlagshaus, Berlin W.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 926, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-24_n0926.html)