Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 927
Text
sie ihre eigene Industrie — Folge: steigende Unsicherheit des Absatzes
für europäische Industrieproducte. »Nur diese gänzliche Zerrüttung der
industriellen Verhältnisse kann die wahnwitzig« Colonialpolitik der
europäischen Staaten erklären. Sie suchen verzweifelt nach neuen
Märkten, greifen nach dem Strohhalm des Absatzes an bedürfnislose
Wilde und ruinieren diese mit Schnaps und ihre eigene Oberherrlichkeil
mit Schiesswaffen, fast den einzigen Artikeln, die Absatz finden.«
Dauernde Abhilfe kann nicht durch ein immer aussichtsloseres
Suchen nach exotischen Exportmärkten erreicht werden, sondern nur
durch Hebung der Kaufkraft des heimischen Marktes. Und zwar denkt
Oppenheimer, indem et die Anläufe zur directen Hebung der Kaufkraft
der Industriearbeiter (Gewerkschaften, Consumvereine) nicht weiter
berücksichtigt, vor allem an die Schaffung einer kaufkräftigen Land-
bevölkerung auf den jetzigen Rittergütern. Eben jene Feldarbeiler, die
von den Gutsbezirken massenhaft in die Städte abströmen und dort
auf die Löhne der Industriearbeiter drücken, sollen durch Gewährung
von Grund und Boden unter günstigen Bedingungen auf dem Lande
festgehalten, resp. wieder aufs Land zurückgelockt werden; anstatt zu
Concurrenten, würden sie dann zu Kunden der Industriearbeiter. Die
Form aber, unter welcher der geraubte Boden seinen Bebauern zurück-
erstattet werden soll, ist nicht die des römisch-rechtlichen Eigenthums
an bäuerlichen Parcellen, sondern die des Nutzungsrechtes am Ge-
nossenschaftsland, wie in der altdeutschen Mark, nach der wirtschaft-
lichen Seite hin jene Form, welche die Vorzüge des Kleinbetriebes,
vor allem den Stimulus des Eigeninteresses, vereinigen soll mit allen
Vortheilen genossenschaftlichen Zusammenschlusses: die landwirt-
schaftliche Arbeiter-Productivgenossenschaft. »In der Land-
wirtschaft wurde zuerst der Producent von seinem Productionsmittel
getrennt; so kann die wirtschaftliche Gesundheit wohl auch nur wieder-
errungen werden, wenn man in der Landwirtschaft dem Producenten
sein Productionsmittel wiedererstattet.«
Verwirft Oppenheimer einerseits den gutsherrlichen Betrieb, der
die Arbeiter mit einem fixen Lohn abfindet, so dass sie am Rein-
ertrag des Gutes nicht interessiert sind, so verwirft er andererseits
ebenso, und zwar mit Recht, den communistischen Betrieb. Denn
auch dieser legt das Eigeninteresse des Arbeiters lahm, indem er dem
Tüchtigen wie dem Unfähigen, dem Fleissigen wie dem Faulen gleichen
Antheil am gemeinsamen Ertrag sichert. Für die projectierten land-
wirtschaftlichen Arbeiter-Productivgenossenschaften muss demnach eine
Verfassung gefunden werden, welche alle Vortheile des genossenschaft-
lichen Zusammenschlusses (Engros-Einkauf von Rohstoffen, Maschinen,
Lebensmitteln; gemeinsamer Verkauf der Productenüberschüsse etc.)
beibehält, dabei aber dem Eigeninteresse genügenden Spielraum lässt.
Dazu kommt, dass Oppenheimer nicht bloss das Grossgrund-
eigenthum verwirft, sondern überhaupt das römisch-rechtliche (»private«)
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 927, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-24_n0927.html)