Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 935
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derselben Tendenz nach möglichster Concentration. Beide Werke sind
innerlich auf das engste verwandt. Sie sind durchtränkt mit den
tiefsten inneren Leiden und Melancholien des Künstlers; in ihnen ist
das Selbsterlebte unmittelbar zu Tönen geworden, die bluten müssten,
wenn man sie zerschneiden würde. Wie innig ist nicht die Verwandt-
schaft zwischen dem ruhelosen, trauernden Meerdämon, der nach
Erlösung durch Liebe fleht und dem Herrn von Kareol, dessen Leben
stets von der trostlosen, traurigen Weise begleitet ist, der sehnsüchtig
nach Erlösung durch Liebe verlangt! In den beiden Gestalten,
Holländer und Tristan, scheint die Gestalt Richard Wagners gleichsam
lebendig aus seinem Werke herauszutreten; mit allen ihren Verzweiflungen
und Erlösungsschreien, ihren tiefsten Sehnsüchten, Melancholien,
Niederlagen und Müdigkeiten ihrer einsamsten Seele, wie sonst in
keinem anderen Werke.
Äusserlich zeigen beide Werke eine ähnliche Energie im Zu-
sammenfassen, ein weisestes Mass im Disponieren, Vertheilen, Trennen,
ein gleiches Wissen um einen sicheren Aufbau. »Ein Drama von der
herbsten Strenge der Form, überwältigend in seiner schlichten Grösse«
hat Friedrich Nietzsche von »Tristan« gesagt. Man denke an die
Exposition: Brangäne tritt auf Tristan zu, um ihm die Botschaft
Isoldens zu überbringen. Kurwenal mahnt ihn: »Hab’ acht, Tristan!
Botschaft von Isolde!« Tristan (auffahrend): »Was ist’s? Isolde! (Er
fasst sich schnell, als Brangäne vor ihm anlangt, langsam): Von
meiner Herrin!« Wie sind nicht in den wenigen Worten
alle Gegensätze, alle Conflicte, alle Compliciertheiten gesagt, aus denen
das Drama aufwächst: Tristans Liebe zu Isolde, Tristans Treue zu
Marke! Man denke an die grosse Scene Tristan-Isolde im ersten Act:
an ihren ganzen unterdrückten Ton, ihre Sparsamkeit und Scham in
Worten, ihr Zurückhalten, ihre Deutlichkeit und Verschwiegenheit!
Wie die zwei Liebenden mit zitternden Seelen beieinander stehen, voll
höchster innerer Spannung, die den sparsamsten, zweideutigsten Worten
nur einen Sinn und eine Bedeutung gibt! Alles von einer sicheren
Hand zusammengefasst und bis zum intensivsten Ausdrucke compri-
miert, mit sparsamster Weisheit und schamvollster Zurückhaltung, wie
sie nur noch die grössten Werke Henrik Ibsens charakterisiert.
Findet sich in der ganzen dramatischen Literatur zu jener epigram-
matischen Tristan-Exposition ein zweites Beispiel, wenn nicht die be-
rühmte Exposition der »Kronprätendenten?« zu jener Scene Tristan-
Isolde ein anderes Analogon als die Scene Rebekka-Rosmer in »Ros-
mersholm«, wo beide wie die Wagner’schen Helden mit bangen,
verschwiegenen Seelen, und dennoch innerlich mit ehernen Fesseln
aneinander geschmiedet, in den Tod gehen?
Wenn ich dies guten Leuten auseinandergesetzt habe, so pflegen
sie gewöhnlich ihr letztes Geschoss zu verschleudern. Aber die Scene
König Marke! Geben Sie nicht zu, dass diese Scene zu breit aus-
geführt ist? Nein, ich finde diese Scene von derselben Hand ge-
staltet wie das ganze Werk. In dieser einen Scene soll sich der
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 935, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-24_n0935.html)