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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 936

Text

936 GRAF.

gütige König ganz offenbaren, milde, weise, im tiefsten ergriffen.
Man denke sich nun die Scene auf einige Ausbrüche der verletzten
Mannesehre beschränkt! Wie leicht könnte Marke in den Augen banaler
Hörer als königlicher Hahnreih tragikomisch dastehen. So aber, in
diesem milden, edlen Gesänge, in welchem aus dem breiten Strome der
Klage die Bilder einer zertrümmerten Welt aufsteigen: Wie ehrfurchts-
voll! Wie gross! Wie königlich! »Aber Sie geben doch zu« —
fragt man weiter im harmlosesten Tone, doch voll perfider Tücken —
»dass die Musik, dieses endlose, gedehnte Recitativ der Marke-Scene
nach der herrlichen Musik (so spielt man sich nämlich geschickt als
gerechter Wagnerfreund auf) abfällt und ernüchtert?« Jawohl!
Das gebe ich zu und sehe darin wieder die grosse Kraft, Weisheit
und Zurückhaltung des Künstlers. Bemerken Sie es denn nicht, dass
Wagner die herrlichsten, metaphysischen Klänge der Musik ent-
fesselt, wenn es gilt die Wunder der Liebe, der Nacht, des Todes
zu schildern; wenn es aber gilt, das Böse, Trügerische, Trennende des
Lebens, des Tages, der Welt zu schildern, mit einer grausamen Schärfe und
gespenstischen Klarheit den Ausdruck der Musik auf das Nothwendigste
beschränkt. So ist es auch hier. Aus der grossen Liebesscene, in welcher
die Liebenden von Stufe zu Stufe aus der Welt des Tages in jene
des Todes aufsteigen, werden sie durch ihr furchtbares Geschick von
den Thoren des Todes durch »Tagesträume, Tagesgespenster« in den
»öden Tag« zurückgerissen. Mit einer unerhörten selbstverleugnenden
Kraft stellt Wagner neben die Dionysosklänge des Liebesduettes das
nur sparsam von den Saiten begleitete Marke-Recitativ. Und erst wenn
Tristan anhebt, Isolde die Wunder der Nacht zu schildern, »das Wunder-
reich der Nacht, aus der ich einst erwacht«, fängt die Musik wieder
an in den tiefsten, ergreifendsten, vollsten Klängen an zu tönen. Wie
gross! Wie herrlich! Wie weise!

Doch dies ist künstlerische, wenn man will technische Weisheit.
Ich spreche jetzt von der philosophischen Weisheit im Bau des Werkes.

Was man so im urbanen Sinne Handlung nennt: alles äusserlich
Lebende, mechanisch Bewegte, normal Interessante, der Lärm und die
Gesten des äusseren Lebens, also das conventionell Dramatische ist in
diesem Drama gleichsam nur skizziert, flüchtig hingeworfen, mit einer
Zurückhaltung dargestellt und in Musik gesetzt, die gerade bei diesem
explosiven und dramatischen Genie doppelt überrascht. Das Treiben
auf dem Schiffe ist mit dem Liede des jungen Seemannes, den kurzen
Takten, welche das Arbeiten der Seeleute schildern, ein paar Takten
von Seemannsliedern erschöpft, wo Wagner z. B. im Holländer im
realistischen Ausmalen der ganzen Welt des Meeres und seiner Be-
wohner sich nicht genugthun konnte Wie kurz und abrupt ist die
Ankunft Markes geschildert. Wie jäh das Überraschen des Liebespaares
durch den Hof, der Kampf Tristans mit Melot. Wie skizziert der Kampf
der Mannen Tristans mit denen Markes am Schlusse des Werkes. Wie
wenig Gewicht ist auf ein solches äusseres Motiv, das die ganze Handlung
bewegt, wie das Verwechseln des Liebes- und Todestrankes, gelegt! Und

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 936, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-24_n0936.html)