Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 937
Text
wenn Richard Wagner in seiner künstlerischen Weisheit neben den
grössten Dramatiker unserer Tage tritt, Henrik Ibsen, so tritt er in
der philosophischen Weisheit, welche aus diesem Thun spricht, neben
die grossen, milden und gütigen Philosophen unserer Tage: Arthur
Schopenhauer, Maurice Maeterlinck, Ralph Waldo Emerson.
Und diese philosophische Weisheit lässt sich etwa so in die
banalen Wörter des Alltages übersetzen: Bedeutung für unser Leben
hat nicht das äussere Geschehen, der Lärm und der Kampf des Tages,
das bunte Treiben der Welt, sondern nur das innere Geschehen. Das
Reifwerden, Erblühen, Absterben; das Licht- und Dunkelwerden der
Seele. Alle jene äusseren Ereignisse haben nur so viel Wert, als sie
neue schlummernde Kräfte der Seele zu wecken imstande sind. Im
besten Falle sind sie Symbole unseres inneren Lebens, meistens nur
Ablenkungen, Betäubungen, Opiate für unser unterdrücktes inneres
Leben. »Und glaube mir nur, Freund Höllenlärm« — lautet ein schönes
Wort Nietzsches — »die grössten Ereignisse — das sind nicht unsere
lautesten, sondern unsere stillsten Stunden« Alles Schreien,
Jammern, Verzweifeln wiegt nichts gegen das stumme Erblassen einer
Seele, die innerlich blutet. Jener Tag, an welchem unsere Kaiserin
zum erstenmale das Wort fand vom »innerlich gestorben sein«, ist der
Todestag dieser Seele, nicht jener, an welchem einer das mechanische
Geschäft des Tödtens besorgte. So ist es im Leben des Einzelnen, so
im Leben des Ganzen. In der Geschichte der Entwicklung der Mensch-
heitsseele wird nicht jener Tag gezählt, an welchem der Christ ans
Kreuz geschlagen wurde, sondern jener, an welchem zuerst in seiner
heidnischen Seele — denn jede Seele ist in ihrer Jugendzeit in der Welt
befangen, heidnisch — der christliche Gedanke vom inneren, göttlichen
Leben und der Bedeutungslosigkeit des äusseren Geschickes auferwacht
ist Die Schwebungen der Seele, ihre Dissonanzen und Harmonien,
ihr Crescendo und Decrescendo, das Weben des heiligen Geistes sind
die einzigen Realitäten; das äussere Geschehen, der Lärm, der Schacher,
das Streiten des Tages, nichts als ein böser Traum, ein Trugbild
der Maja. Dies sagt das Wort des Heilands: »Mein Reich ist nicht
von dieser Welt.« Aus diesem christlichen Grundempfinden erklärt
sich die Weisheit, mit welcher Richard Wagner in Tristan alles äussere
Geschehen gleichsam nur skizziert, flüchtig im Nebel erscheinen lässt, die
heiligsten Ströme der Musik aber zum Rauschen bringt, wenn es gilt,
das innere Geschehen, die eigentlichen Tragödien der Seele zu schildern.
Die Erlösung heidnischer Welten durch die christlichste Liebe und
das Christlichwerden heidnischer Seelen ist das ewige Leitmotiv der
Wagner’schen Kunstwelt. So schildert er noch äusserlich die Erlösung
des ruhelosen Ahasver durch die Liebe Sentas, so die Erlösung des
im Spuk der Venus befangenen Tannhäuser durch die Liebe Elisabeths;
so schildert er gewaltig die Entsagung des Welten- und Erdengottes
Wotans, das Frei-, Göttlich-, Heiligwerden dieser heidnischen Seele;
so schildert er die Erlösung der im blinden Streite sich verzehrenden
Welt durch das Sehendwerden Brünhildens, die des »ewigen Werdens
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 937, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-24_n0937.html)