Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 938
Text
offene Thore« hinter sich schliessend, »nach dem wunsch- und wahnlos
heiligsten Wahlland von Wiedergeburt erlöst«, eine Wissende hinzieht.
So schildert er das Christlichwerden Parsifals, der ein Heidnisch-Tumber,
gefühllos für die Leiden der Thiere und Menschen, durch Mitleid
wissend, ein Erlöser von Welten wird. So schildert er das Christlich-
werden Tristan und Isoldens.
Sie sind die Verkörperung alles dessen, was in der unteren
Welt als herrlich gilt. Tristan: alle Kraft, alle Männlichkeit, »Ein Herr
der Welt, Tristan der Held« — Isolde: die schönste Königin, im Be-
sitze der gewaltigsten Machtmittel der Frau, die hehre Zauberin. Und
nun wird geschildert, wie jene beiden Seelen, in den bösen Wahn der
Welt verstrickt, erwachen, seine »eitle Pracht, seinen prahlenden Schein«
durchschauen, von seines »flackernden Lichtes flüchtigen Blitzen« un-
geblendet, sehend werden, erkennen:
»Wer des Todes Nacht liebend geschaut,
Wem sie ihr tief Geheimniss vertraut,
Des Tages Lügen, Ruhm und Ehr,
Macht, Gewinn, so schimmerd heer
Wie eitler Staub der Sonnen,
Sind sie vor dem zersponnen!
In des Tages eitlem Wähnen
Bleibt ihm ein einzig Sehnen,
Das Sehnen hin zur heil’gen Nacht,
Wo urewig, einzig wahr, Liebeswonne ihm lacht.«
So zur reifsten Erkenntnis der Welt aufgewachsen, die letzte
Leuchte verlöschen sehend, werden sie immer wieder von den Trug-
bildern des Lebens zurückgerissen, bis endlich die Dämmerung herein-
bricht und sie den Liebestod sterben.
— — — — — Wie fremd man bis heute diesem Werke gegen-
über steht, dafür ist nichts besserer Beweis, als dass man gerade
jene grosse Scene, in welcher die Liebenden zur christlichen Erkenntnis
der Welt aufwachsen, in der furchtbarsten Weise amputiert hat. Hat
man sonst die Wagner’schen Werke an Haupt und Gliedern ver-
stummelt, so hat man hier das Herz aus dem innersten Organismus
herausgerissen. Wenn man im Hof-Operntheater den »Tristan« zum
erstenmal ungekürzt aufführt, so ist dieser Tag ein historischer Tag
für die Erkenntnis der Werke Richard Wagners. An diesem Tage
wird man »Tristan und Isolde« in Wien zum erstenmale
gegeben haben.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 938, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-24_n0938.html)