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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 939

Text

DAS SECESSIONSGEBÄUDE.
Von MARIE LANG (Wien).

Plötzlich ist es emporgewachsen, blendend weiss, goldschimmernd.
Inmitten aufgewühlten Grundes, zwischen Schuttmassen, Schmutz und
Lehm, jenseits von Gräben, die bis in die Eingeweide der Erde zu
führen scheinen, hoch oben über der Wien, in deren Bett die Menschlein
wie Ameisen wimmeln, graben, schaufeln, mauern, aufthürmen und
— winzig wie sie sind — Kyklopenwerke verrichten, hoch oben über
all dem Gewühl, dem Geschrei und Spectakel des Neuebahnenschaffens
steigt es empor wie ein Symbol alles dessen, wie eine schmetternde Fanfare!

Aber die vielen verstehen nicht dieses frohlockende Geschmetter,
sie sind mühselig und beladen und ihre Seelen sind nicht auf diesen
Ton gestimmt. Die Bürger und Spiessbürger gehen daran vorüber und
ärgern sich. Eine Menge von Hindernissen belästigen sie an dieser
Stelle, der fast unpassierbare Weg über den Alsbachgraben, den sie
fluchend zurücklegen müssen, die spitzen Steine, die Kothlachen, der
Staub und der blendende neuartige Anblick vor ihren Augen, alles zu-
sammen stört sie, scheucht sie auf, verschwimmt unter der Schwelle
ihres Bewusstseins zu einem einzigen dumpfen Unlustgefühl

Was ein roher Bube that, als er verständnislos die hellen Wände
des Secesssionsgebäudes mit Koth bewarf, das thun die ehrsamen
Bürger, die sich vor Ausschreitungen natürlich bekreuzigen, ganz ebenso
mit ihren Schmähungen.

Doch um dieses schmetternde Frohlocken zu verstehen, muss
man eine tanzende Seele haben, muss jauchzen können und nach den
goldenen Kränzen des Lebens greifen wie die Frauen an den Wänden
der Secession, die, im Reigen ziehend, sie in die hellen Lüfte
emporrecken.

Aber Reigen — was wissen die Philister von Reigen? Reigen
sind Harmonien, spielende Kräfte und fliessendes Spiel —

Das verstehen sie nicht. Dafür halten sie aber das ganze Ge-
bäude für eine Spielerei, für »Gschnas«. Philister sind eben Maul-
würfe und sehen gar nichts, weder die Freude, noch den Ernst. Sie
sind nicht betroffen von dem verwegenen Ernst, der ihnen da ent-
gegentritt, der aus dem Reichthum tiefinnen quellender, überfliessender,
uneindämmbarer Jugendkraft den Muth schöpft, anders zu bauen, anders
zu schmücken, eine andere Sprache zu reden als sie alle. Sie sehen
auch nicht das medusenhafte Antlitz mitten über der Pforte! Welch
Bekenntnis!

Wie der griechische Tempel eine esoterische Lehre vom Menschen
ist, in heilig klarer Schönheit verkündet durch Hellenen, so ist das

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 939, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-24_n0939.html)