Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 929
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und Mühle, gemeinsame Zuchtthiere, Consumverein, Vorschusscasse,
Absatzgenossenschaft.
Aber Oppenheimer zeigt sich auch hier wieder als ostelbischer
Preusse. Seine Genossenschafts-Construction lehnt sich aufs engste an
die bestehenden Verhältnisse der preussischen Rittergüter an. Die un-
sinnige Ausdehnung dieser Latifundien bringt es mit sich, dass die an
der Peripherie gelegenen Grundstücke, die sogenannten Aussenschläge,
wenn sie von der Centrale aus bewirtschaftet werden, thatsächlich
ertraglos sind, da die Fuhren von und nach der Centrale mehr Zeit
und Arbeitskraft brauchen, als der ganze Ertrag wert ist. Man be-
gegnet diesem Übel nicht selten durch Errichtung secundärer Wirt-
schaftscentren, der Vorwerke; zuweilen auch durch Überlassung der
Aussenschläge an Kleinpächter, die dann zugleich als Taglöhner auf
dem Hauptgut arbeiten. Ganz ebenso sollen in der Oppenheimer’schen
Genossenschaft nur die Aussenschläge parcellirt und an die Mitglieder
verpachtet werden; das Hauptgut wird von der Centrale aus einheitlich
bewirtschaftet. Wozu diese Einrichtung nothwendig ist, leuchtet mir,
offen gesagt, nicht ein. Gleichviel aber; jedenfalls erweist sich diese
Voraussetzung sehr fruchtbar für Oppenheimers weitergehende An-
regungen.
Bevor ich aber hierauf eingehe, will eine Frage von fataler
Wichtigkeit beantwortet sein: Auf welche Weise soll die Arbeiter-
genossenschaft in den Besitz des Rittergutes gelangen? Eine ent-
schädigungslose Expropriation zieht Oppenheimer — wenigstens in
dem vorliegenden Buch — überhaupt nicht in Betracht. Dass aber
eine Gruppe ostelbischer Landarbeiter die Kaufsumme für ein Rittergut
aus eigener Kraft aufbringt, hält er für ausgeschlossen. Folglich muss
jemand anderer den Arbeitern das Gut zur Verfügung stellen. Wer
soll das sein? Der Gutsbesitzer selbst? Oder der Staat? Beides hält der
Autor für wünschenswert, aber für unwahrscheinlich. Die nächstliegende
und aussichtsreichste Möglichkeit, die Gründung einer landwirtschaft-
lichen Genossenschaft durch einen grossen Consumverein, für dessen
Bedarf sie zu producieren hätte,*) thut Oppenheimer, der nun einmal
grundsätzlich die Consumvereine unterschätzt, mit einigen flüchtigen
Zeilen ab. Bleibt nur die Möglichkeit, dass private Philanthropen das
Geld vorstrecken. Diesen Weg hat Oppenheimer durch Ausarbeitung
der Statuten der Siedlungsgenossenschaft »Freiland« zu betreten
versucht; gelungen ist es ihm bisher noch nicht.
Sei dem wie es wolle. Wir nehmen exempli gratia an, die erste
der geplanten landwirtschaftlichen Arbeiter-Productivgenossenschaften
*) Der Brüsseler Arbeiter-Consumverein »Maison du Peuple« bezieht
seine Butter aus einer eigens hiezu gegründeten Molkerei in Herffelingen, deren
Arbeiter unter sich eine kleine Genossenschaft bilden. Die Milch, die in
Herffelingen verarbeitet wird, stammt ihrerseits von einer bäuerlichen Ge-
nossenschaft. — In Deutschland haben die Raiffeisen’schen Creditvereine das
Gut Silginnen bei Königsberg erworben und beschlossen, es genossenschaftlich
zu besiedeln.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 929, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-24_n0929.html)