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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 23, S. 542

Text

HENRY DE GROUX.
Von CHARLES BUET (Paris).

In einer der letzten Kunstausstellungen
Brüssels erregte ein eminent grosses Ge-
mälde von Henry de Groux Sensation
und beinahe Anstoss. Es trug den Titel:
»Le Christ montré au peuple«.* Ganz
in der Höhe sieht man Engel sich in die
Wolken verlieren, das Antlitz unter ihren
Flügeln bergend; dann Jesus zwischen zwei
Henkern, fahl, blutleer, mit schmutzigen
Lumpen behangen, von Dornen gekrönt;
vor seinen Blicken ein Gewühl mensch-
licher Wesen, die ihn verhöhnen, be-
schimpfen — — ein Haufe pöbelhafter
Individuen, die ihre Fäuste ballen, kreischen,
die Augen krampfhaft verdrehen — —
eine Flut menschlichen Unraths, Rümpfe
und Glieder, die sich ineinander ver-
wickeln, aufgelöste Haare, zerschlissene
Gewänder, groteske Leiber, verzerrte
Fratzen— — dies Alles thürmt sich zu
einer Cascade von Fleisch und Formen.

König Leopold II., der die Gallerie
besuchte, blieb vor dem Bilde stehen und
betrachtete lange Zeit die Leinwand, die
rings Hohngelächter, Spottrufe, Verachtung,
aber auch Überraschung, ja Bewunderung
hervorrief. Er liess sich den Maler vor-
stellen, einen Jüngling, der sich inmitten
der Menge verbarg — und nun entspann
sich zwischen König und Künstler ein
Dialog, der fast wie aus einer anderen
Zeit ist.

»Herr de Groux,« sagte der König,
»ich kenne seit langem die Werke Ihres
Vaters. Dies aber ist die erste Ihrer Ar-
beiten, die ich sehe. Sie haben da eine
recht befremdliche Sache gemacht, aber
gerade dies ist ein bemerkenswerter Punkt.
Ich mochte nun einige Fragen an Sie
richten.«

Henry de Groux antwortete:

»Ich habe die Überzeugung, Sire, in
der That eine sehr seltsame, den Phi-

listern sicherlich unerträgliche Sache ge-
macht zu haben. Auch bin ich glücklich,
dass sie Ihnen gefällt.«

»Ja, aber warum haben Sie diese da,
sie Alle, so durchwegs, so absichtlich häss-
lich gemacht?«

»Sire, ich habe geglaubt, dass sie
durch die Gefühle, die sie ausdrücken,
nicht verschönert werden konnten.«

»Aber warum ist selbst Christus so
unschön? Warum drückt er Schrecken und
Entsetzen aus? Die Tradition stellt ihn
schön und voller Hoffnung dar.«

»Ich habe geglaubt, dass Christus, der
Gott war und sich zum Menschen ge-
macht hat, um alle Leiden und alles
menschliche Elend auf sich zu nehmen,
nicht schön sein konnte, zum mindesten
nicht von der vulgären Schönheit, und
dass er also auch die Angst, die Angst
des Leibes, und selbst den äusseren An-
schein der Schuld und Sündhaftigkeit an
sich nehmen musste.«

»Was Sie da sagen, ist interessant,
aber sehr kühn!«

Mag sein. Henry de Groux ist aber,
wenn er Jesus hässliche Züge gibt, durch-
aus nicht ketzerischer als die Primitiven,
die ihn stets so dargestellt haben, und
zwar nach einem Text Tertullians, aus
dem Tractat »De Carne Christi« und auch
nach dem Worte des Psalmisten: »Ego
sum vermis et non homo, opprobrium
hominum et abjectio plebis (David, XXI, 7).

Der König, der grosse Sorge um künst-
lerische Dinge hegt, liess bald darauf das
gigantische Gemälde Henry de Groux’
auf eigene Kosten nach Paris schicken,
wo es in dem Salon des Champ-de-Mars
unter dem Titel »Le Christ aux Outrages«
ausgestellt wurde.

Dieser Maler, der erst das 30. Lebens-
jahr überschritten hat, ist in Brüssel ge-

* Man vgl. das Bild auf Seite 541 dieses Heftes. D. RED.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 23, S. 542, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-23_n0542.html)